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KARL JASPERS 

Die Schuldfrage 


LAMBERT SCHNEIDER ■ HEIDELBERG 




Die Schuldfrage 


Von 

KARL JASPERS 

Dr. med., o. ö. Prof, der Philosophie 


1946 


HEIDELBERG 



LIZENZ US • W • 1007 
LAMBERT SCHNEIDER 
HEIDELBERG 



VORWORT 


A us einer Vorlesungsreihe über die geistige Situation in 
Deutschland, die im Wintersemester 1945-1946 statt¬ 
fand, wird hier der Inhalt der Stunden, welche über die 
Schuldfrage handelten, veröffentlicht. 

Die Gesinnung, in der ich von ihr spreche, wird vielleicht 
durch die Einleitungsvorlesung, mit der ich das Semester 
begann, deutlicher. Ich stelle diese - noch in der Vor¬ 
lesungsform belassen - voran. 

Mit allen diesen Erörterungen möchte ich als Deutscher 
unter Deutschen Klarheit und Einmütigkeit fördern, als 
Mensch unter Menschen teilnehmen an unserem Mühen um 
Wahrheit. 


Heidelberg, April 1946 


Karl Jaspers 



INHALTSÜBERSICHT 


Einleitung zu einer Vorlesung 
über die geistige Situation in Deutschland 

Das Bild der Universität, die neue Freiheit. n 

§ 1. Miteinanderreden . 14 

§ 2. Die großen Verschiedenheiten zwischen uns. 19 

§ 3. Plan der folgenden Erörterungen . 24 

DIE SCHULDFRAGE 

Einleitung. 29 

A. SCHEMATIKDER UNTERSCHEIDUNGEN 

§ 1. Vier Schuldbegriffe. 31 

§ 2. Folgen der Schuld . 34 

§ 3. Gewalt • Recht ■ Gnade . 35 

§ 4. Wer urteilt und wer wird beurteilt?. 37 

§ 5. Verteidigung. 41 

B. DIE DEUTSCHEN FRAGEN 

Einleitung . 44 

I. Die Differenzierung deutscher Schuld 

§ 1. Die Verbrechen. 47 

§ 2. Die politische Schuld . 55 

§ 3. Die moralische Schuld. 57 

§ 4. Die metaphysische Schuld . 63 

§ 5. Zusammenfassung: a) Folgen der Schuld ... 65 

b) Die Kollektivschuld . . 67 

II. Möglichkeiten der Entschuldigung 

§ 1. Der Terrorismus. 73 

§ 2. Schuld und historischer Zusammenhang ... 75 

§ 3. Die Schuld der anderen. 79 

§ 4. Aller Schuld?. 85 

III. Unsere Reinigung 

Einleitung. 89 

§ 1. Ausweichen vor der Reinigung. 90 

§ 2. Der Weg der Reinigung. 102 























EINLEITUNG ZU EINER VORLESUNG UBER 
DIE GEISTIGE SITUATION IN 
DEUTSCHLAND 



M eine Damen und Herren! 

Wer von Ihnen in den letzten Jahren als Student in 
diesen Räumen saß, wird jetzt vielleicht denken: Es klingt 
plötzlich alles ganz anders; die Szene hat gewechselt; der 
Gang der politischen Ereignisse stellt die Dozenten als Pup¬ 
pen heraus, einmal diese, einmal jene; als Organe der Macht 
sagen sie ihr Verslein her; ob sie so oder so reden, keinem 
ist zu trauen; wes Brot ich eß, des Lied ich sing - das gelte 
auch von den Professoren. 

Ich verstehe dies Mißtrauen bei jedem jungen Menschen, 
der in den letzten zwölf Jahren in dieser Umwelt zum Be¬ 
wußtsein erwacht ist. Aber ich bitte Sie, im Gang Ihres 
Studiums sich für die Möglichkeit olfenzuhalten, daß es 
jetzt anders ist, daß es sich jetzt doch wirklich um Wahr¬ 
heit handle. Der Anspruch geht an Sie selbst, daß jeder für 
sich an seiner Stelle mitwirke, daß Wahrheit offenbar werde. 
Vorläufig aber hören Sie meine Auffassung von der Lage 
in den Wissenschaften an der Universität und prüfen sie. 
Sie ist folgende: 

In manchen Wissenschaften werden Sie kaum etwas an¬ 
deres hören, als in den vorigen Jahren. Forscher, die sich 
treu blieben, haben hier jederzeit Wahrheit gelehrt. Sie wer¬ 
den manche Lehrer wieder angetroffen haben, die in Stimme 
und Ton ebenso wie im Inhalt und in den Grundanschau¬ 
ungen ihrer Vorlesungen Ihnen als dieselben entgegentre¬ 
ten, die sie alle die Jahre waren. 

Dagegen werden Sie besonders in weltanschaulichen und 
politischen Gebieten vielleicht einen wunderlichen Ein¬ 
druck haben. Es klingt in der Tat nun alles ganz anders. 
Diejenigen zwar, die schon vor 1933 oder auch noch in den 
ersten Jahren nachher hier hörten, würden, wenn sie wie¬ 
der hier säßen, bei manchem von uns wohl eine Überein¬ 
stimmung der Grundhaltung wahrnehmen. Aber auch da 
ist vielleicht eine Verwandlung durch die Erschütterungen 
dieses Jahrzehnts spürbar. Und ein Szenenwechsel ist in 
der Tat. Dozenten, die Ihnen die nationalsozialistischen 
Redewendungen vortrugen, sind verschwunden. Andere 
Dozenten sind aus der Vergangenheit als alte Leute wieder 
aufgetaucht oder jung hinzugekommen in einer Verwand¬ 
lung zur Freiheit und Offenheit, während sie bis dahin eine 
Maske tragen mußten. 


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Wiederum bitte ich Sie: hüten Sie sich vor dem vorzeiti¬ 
gen Schluß, von diesen würde jetzt das Gegenteil des eben 
noch Gültigen gelehrt; man rede ja genau so wie vorher, 
nur umgekehrt; was vorher verherrlicht wurde, das werde 
jetzt bekämpft; was vorher bekämpft wurde, das werde 
jetzt verherrlicht. In jedem Fall, gestern wie heute, sei die 
Lehre politisch erzwungen, also keine eigentliche Wahr¬ 
heit. - Nein, so ist es wenigstens nicht überall. Wo es so 
wäre, da wäre in der Tat kein wesentlicher Unterschied. 
Nicht die Denkungsart, sondern nur die Richtung der Ag¬ 
gressivität oder der schwindelhaften Verherrlichung hätte 
gewechselt. 

Wir Professoren werden durch die Weise unserer Lehre 
zu zeigen haben, daß der radikale Unterschied zwar auch 
durch bestimmte Inhalte, entscheidend aber in der Den¬ 
kungsart selber besteht. Wenn frühere Lehre Propaganda, 
nicht Wissenschaft war und nicht Philosophie, so soll jetzt 
nicht etwa ein anderer Standpunkt bezogen werden, son¬ 
dern die Denkweise zurückkehren zur kritischen Bewegung, 
zum Forschen, das das eigentliche Erkennen ist. Dieses 
kann man unterdrücken. So wie man ihm Raum gibt, er¬ 
wächst es aus dem Wesen des Menschseins. 

Wohl ist alles Denken und Forschen abhängig von den 
politischen Zuständen. Aber der Unterschied ist, ob Den¬ 
ken und Forschen von der politischen Macht für ihre eige¬ 
nen Zwecke gezwungen und für sie eingesetzt werden, oder 
ob sie frei gelassen werden, weil die politische Macht freie 
Forschung, einen von ihrer unmittelbaren Einwirkung freien 
Raum, will. 

Vor 1933 durften wir und jetzt dürfen wir wieder frei 
denken und reden. Der gegenwärtige politische Zustand ist 
eine Militärregierung und eine durch deren Autorität ein¬ 
gesetzte deutsche Regierung, welche ihrerseits daher noch 
keine demokratische, sondern eine autoritäre Regierung ist. 
Aber beide, Militärregierung und deutsche Regierung, zwin¬ 
gen uns keine Linie unseres Denkens und Forschens auf, 
sondern lassen uns frei für die Wahrheit. 

Das heißt heute noch nicht, daß wir die Freiheit zu be¬ 
liebigen Urteilen hätten. 

Die Gesamtlage läßt es nicht zu, über alle weltpolitisch 
entscheidenden Fragen, die gegenwärtig im politischen 


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Kampf der Mächte eine Rolle spielen, öffentlich ganz rück¬ 
haltlos zu sprechen. Das ist selbstverständlich. In der gan¬ 
zen Welt kann es der politische Takt gebieten, jeweils über 
gewisse Fragen und Tatsachen im Interesse der günstig¬ 
sten Lösung zu schweigen - wenn es auch schmerzlich und 
nicht der ideale Zustand ist. Unsere Wahrhaftigkeit ge¬ 
bietet uns, das einzugestehen. Niemand aber hat hier ein 
Recht der Anklage. Über alles nach Lust und Willkür zu 
reden, ist ohnehin Zuchtlosigkeit. 

Nur was man redet, soll bedingungslos wahr sein. 

Das je gegenwärtige politische Geschehen ist nicht Gegen¬ 
stand der Universitätsvorlesungen in dem Sinne, daß hier 
Politik gemacht würde. Es ist niemals Sache der Vorlesun¬ 
gen, die Regierungen in ihren Handlungen zu kritisieren 
oder zu belobigen - wohl aber etwa, deren tatsächliche 
Struktur wissenschaftlich zu klären. 

Daß wir heute eine Militärregierung haben, heißt, ohne 
daß es ausdrücklich gesagt zu werden brauchte, daß wir 
kein Recht haben, die Militärregierung zu kritisieren. 

Das alles bedeutet aber keine Einschränkung unserer For¬ 
schung, sondern nur einen kräftigen Zwang, das nicht zu 
tun, was niemals unsere Sache ist, nämlich in politische 
Handlungen und Entscheidungen des Tages einzugreifen. 
Es schiene mir böswillig, darin eine Beschränkung unserer 
Wahrheitserforschung zu sehen. 

Diese bedeutet vielmehr: Wir dürfen das methodisch 
Erforschbare nach allen Seiten mit allen Mitteln zu erken¬ 
nen suchen. Wir haben die Möglichkeit der Vielfalt unserer 
Anschauungen und der Diskussion, aber auch die Gefahr 
der Zerstreuung und der Bodenlosigkeit. 

Das heißt wiederum nicht: Wir hätten Freiheit für Pro¬ 
paganda. Solche würde vielleicht geduldet, wenn sie auf 
der Linie der heute gültigen politischen Zwecke läge. Sie 
wäre an der Universität auch dann ein Unheil. Wir haben 
Wahrheit nicht durch schnelle Behauptungen zu ergreifen, 
sondern haben zu prüfen, zu erwägen, uns zu besinnen, im 
Hin und Her, im Für und Wider zu erörtern, die eigenen 
Behauptungen in Frage zu stellen. Wahrheit ist nicht da 
als fertig lieferbare Ware, sondern ist nur in der methodi¬ 
schen Bewegung, in der Besonnenheit der Vernunft. 

Was ich bisher sagte, gilt von unserer Universität über- 


13 



haupt, ihrer Lehre und Forschung. Für unsere gegenwärtige 
Vorlesung sind die angedeuteten Probleme der Spannung 
in besonderer Schärfe da. 

Ich möchte zu Ihnen sprechen über unsere Situation, 
streife also ständig an das unmittelbar Aktuelle, das als 
konkrete Politik nicht unser Thema ist und nicht sein soll. 
Worauf wir uns besinnen wollen, das ist aber eine Voraus¬ 
setzung auch für unser politisches Urteilen. 

Ich möchte sprechen aus philosophischen Motiven, um 
uns zu klären und zu ermutigen. Die Wahrheit soll uns hel¬ 
fen, unseren Weg zu finden. 

Für diese Überlegungen wollen wir uns zunächst zwei 
Notwendigkeiten vergegenwärtigen, deren Bewußtheit mir 
für uns Deutsche in unserer heutigen Lage besonders un¬ 
erläßlich dünkt. Wir müssen lernen, miteinander zu reden, 
und wir müssen uns gegenseitig in unseren außerordent¬ 
lichen Verschiedenheiten verstehen und anerkennen. Diese 
Verschiedenheiten sind so groß, daß wir uns in Grenzfällen 
wie aus verschiedenen Völkern zu stammen scheinen. 

§ 1. MITEINANDERREDEN 

Wir müssen uns in Deutschland miteinander geistig zu¬ 
rechtfinden. Wir haben noch nicht den gemeinsamen Bo¬ 
den. Wir suchen zusammen zu kommen. 

Vom Katheder zu sprechen ist aber notwendig einseitig. 
Hier unterhalten wir uns nicht. Was ich Ihnen vortrage, 
ist jedoch erwachsen aus dem Miteinandersprechen, das wir 
alle, jeder in seinem Kreise, vollziehen. Wie dieses überall 
stattfindet, das ist das Ethos der Atmosphäre, in der wir 
leben. 

Jeder muß mit den Gedanken, die ich vortrage, auf seine 
Weise umgehen - er soll sie nicht als gültig einfach hin¬ 
nehmen, sondern erwägen -, aber auch nicht einfach wider¬ 
sprechen, sondern versuchen, vergegenwärtigen und prüfen. 

Wir wollen lernen, miteinander zu reden. Das heißt, wir 
wollen nicht nur unsere Meinung wiederholen, sondern 
hören, was der andere denkt. Wir wollen nicht nur behaup¬ 
ten, sondern im Zusammenhang nachdenken, auf Gründe 
hören, bereit bleiben, zu neuer Einsicht zu kommen. Wir 
wollen den andern gelten lassen, uns innerlich versuchs¬ 
weise auf den Standpunkt des andern stellen. Ja, wir wollen 


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das uns Widersprechende geradezu aufsuchen. Der Gegner 
ist zum Erreichen der Wahrheit wichtiger als der Einstim¬ 
mende. Das Ergreifen des Gemeinsamen im Widersprechen¬ 
den ist wichtiger als die voreilige Fixierung von sich aus¬ 
schließenden Standpunkten, mit denen man die Unter¬ 
haltung als aussichtslos beendet. 

Es ist so leicht, entschiedene Urteile affektbetont zu ver¬ 
treten; es ist schwer, ruhig zu vergegenwärtigen und mit 
Wissen um alle Gegenstände das Wahre zu sehen. Es ist 
leicht, mit trotzigen Behauptungen die Kommunikation ab¬ 
zubrechen; es ist schwer, unablässig über Behauptungen 
hinaus in den Grund der Wahrheit einzudringen. Es ist 
leicht, eine Meinung aufzugreifen und festzuhalten, um sich 
weiteren Nachdenkens zu überheben; es ist schwer, Schritt 
für Schritt voranzukommen und niemals das weitere Fra¬ 
gen zu verwehren. 

Wir müssen die Bereitschaft zum Nachdenken wieder¬ 
herstellen gegen die Neigung, alles gleichsam in Schlag¬ 
zeilen plakatiert schon fertig zu haben. Dazu gehört, daß 
wir uns nicht berauschen in Gefühlen des Stolzes, der Ver¬ 
zweiflung, der Empörung, des Trotzes, der Rache, der Ver¬ 
achtung, sondern daß wir diese Gefühle auf Eis legen und 
sehen, was wirklich ist. Wir müssen solche Gefühle suspen¬ 
dieren, um das Wahre zu erblicken, um liebend in der Welt 
zu sein. 

Aber nun gilt vom Miteinanderreden auch umgekehrt: 
Es ist leicht, alles unverbindlich zu denken und sich nie zu 
entscheiden; es ist schwer, in der Helligkeit allseitig offenen 
Denkens den wahren Entschluß zu fassen. Es ist leicht, 
durch Reden sich um die Verantwortung zu drücken; es ist 
schwer, den Entschluß unbedingt, aber ohne Eigensinn, 
festzuhalten. Es ist leicht, jederzeit in der Situation dem 
geringsten Widerstand zu folgen; es ist schwer, in der Füh¬ 
rung durch den unbedingten Entschluß durch alle Beweg¬ 
lichkeit und Biegsamkeit des Denkens den entschiedenen 
Weg einzuhalten. 

Diese Schwierigkeiten lassen uns nach entgegengesetzten 
Seiten in die Irre geraten. Wir kommen nicht weiter, wenn 
wir die eben geschilderten Abgleitungen der einen Seite 
gegen die der anderen ausspielen. Es gibt auch nicht das 
Mittlere. Vielmehr liegt der Weg des Menschen zum Wah- 


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ren in dem Raum der Ursprünge, von denen jene Abglei¬ 
tungen erfolgen. Dort gehen wir, wenn wir wirklich mit¬ 
einander zu reden vermögen. Dazu muß ständig etwas in 
uns bleiben, das dem anderen vertraut und Vertrauen ver¬ 
dient. Dann wird im Wechselgespräch jene Stille möglich, 
in der man gemeinsam horcht, und hört, was wahr ist. 

Daher wollen wir nicht zornig aufeinander werden, son¬ 
dern versuchen, miteinander den Weg zu finden. Der Affekt 
spricht gegen die Wahrheit des Redenden. Wir wollen keinen 
fanatischen Willen herauskehren, uns nicht überschreien. 
Wir wollen uns nicht pathetisch an die Brust schlagen, um 
den anderen zu beleidigen, wollen nicht in Selbstzufrieden¬ 
heit preisen, was nur zur Kränkung des andern gemeint ist. 
Wir wollen uns nicht gegenseitig Meinungen aufzwingen. 
Im gemeinsamen Suchen des Wahren aber darf es keine 
Schranken geben durch schonende Zurückhaltung, keine 
Milde durch Verschweigen, keinen Trost durch Täuschung. 
Es gibt keine Frage, die nicht gestellt werden dürfte, keine 
liebgewordene Selbstverständlichkeit, kein Gefühl, keine 
Lebenslüge, die zu schützen wären oder die unberührbar 
wären. Aber erst recht darf es nicht erlaubt sein, sich frech 
ins Gesicht zu schlagen durch herausfordernde, unbegrün¬ 
dete, leichthin gefällte Urteile. Wir gehören zusammen; wir 
müssen unsere gemeinsame Sache fühlen, wenn wir mit¬ 
einander reden. 

Wenn wir laut zueinander sprechen, so setzen wir nur 
fort, was und wie jeder einzelne innerlich mit sich selber 
spricht. In solchem Sprechen ist keiner des andern Richter, 
jeder ist zugleich Angeklagter und Richter. All unser Er¬ 
örtern steht unter dem Schatten solcher Anklagen, des 
Moralisierens, das seit alters sich in so viele Unterhaltungen 
mischt, und, wogegen auch immer es sich richtet, ständig 
wie ein Gift in unsere Wunden träufelt. Dieser Schatten ist 
nicht fortzuschaffen, aber ständig zu lichten. Wir können 
wohl den rechten Antrieb haben: wir wollen nicht anklagen, 
außer bei bestimmten Verbrechen, die objektiv feststellbar 
und zu ahnden sind. All die Jahre haben wir das Verächt- 
lichmachen anderer Menschen mit angehört. Das wollen 
wir nicht fortsetzen. 

Aber es gelingt immer nur zum Teil. - Wir alle neigen da¬ 
zu, uns zu rechtfertigen, und als gegnerisch gefühlte Kräfte 

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anzugreifen durch Werturteile oder moralische Anklagen. 
Wir müssen uns heute schärfer als je prüfen. Machen wir 
uns folgendes klar: Im Gang der Dinge scheint stets der 
Überlebende recht zu haben. Der Erfolg scheint recht zu 
geben. Wer oben schwimmt, meint bei der Wahrheit der 
guten Sache zu sein. Darin liegt die tiefe Ungerechtigkeit 
der Blindheit für die Scheiternden, für die Ohnmächtigen, 
für die, welche durch die Ereignisse zertreten werden. 

So ist es jederzeit. So war der preußisch-deutsche Lärm 
nach 1866 und 1870, der den Schrecken Nietzsches erregte. So 
war der noch wildere Lärm des Nationalsozialismus seit 1933. 

So müssen wir uns jetzt selber fragen, ob wir nicht wieder 
einem anderen Lärm verfallen, selbstgerecht werden, aus 
unserem bloßen Überleben und Gelittenhaben eine Legi¬ 
timität ableiten. 

Seien wir uns klar: Daß wir leben und überleben, ver¬ 
danken wir nicht uns selbst; daß wir neue Zustände mit 
neuen Chancen in der furchtbaren Zerstörung haben, haben 
wir nicht durch eigene Kraft erreicht. Geben wir uns keine 
Legitimität, die uns nicht zukommt. 

Wie heute jede deutsche Regierung eine von den Alliier¬ 
ten eingesetzte autoritäre Regierung ist, so verdankt jeder 
Deutsche, jeder von uns, heute seinen Wirkungsraum dem 
Willen oder der Erlaubnis der Alliierten. Das ist eine grau¬ 
same Tatsache. Unsere Wahrhaftigkeit zwingt uns, sie kei¬ 
nen Tag zu vergessen. Sie bewahrt uns vor Übermut, lehrt 
uns Bescheidung. 

Auch heute gibt es wie jederzeit unter den Überlebenden, 
oben Schwimmenden die empörten, leidenschaftlichen Men¬ 
schen, die alle recht zu haben glauben und als ihr Verdienst 
in Anspruch nehmen, was durch andere geschehen ist. Wem 
es gut geht, wer Hörer findet, glaubt schon damit recht zu 
haben. 

Niemand kann sich dieser Situation ganz entziehen. Wir 
müssen uns wirklich bemühen, in Selbsterziehung zurück¬ 
zufinden, wenn wir einen Augenblick immer wieder auf 
diesen Weg geraten. Wir sind selber empört. Möge die Em¬ 
pörung sich reinigen, möge sie uns bleiben als Empörung 
gegen die Empörung, als Moral gegen das Moralisieren. Wir 
kämpfen um die Reinheit der Seele, wenn wir uns gegen 
dieses Unüberwindbare bemühen. 


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Das gilt für die Arbeit, die wir nun in dieser Vorlesung 
miteinander leisten wollen. Was wir als einzelne gedacht, 
in Gesprächen hier und da erfahren haben, läßt sich zum 
Teil objektivieren in einem gedanklichen Zusammenhang. 
Sie wollen teilnehmen an solchem zusammenhängenden 
Denken, an Fragen und versuchten Antworten, in denen 
Sie wiedererkennen, was in Ihnen selbst bereit liegt oder 
schon klar ist. Wir wollen miteinander überlegen, während 
ich faktisch einseitig vortrage. Aber der Sinn ist nicht dog¬ 
matische Mitteilung, sondern Untersuchung und Darbie¬ 
tung zur Prüfung von Ihrer Seite. 

Dazu gehört nicht nur Arbeit des Verstandes, sondern 
durch ihn veranlaßt eine Arbeit des Herzens. Diese Arbeit 
inneren Handelns trägt die Verstandesarbeit und wird von 
ihr wiederum erregt. Sie werden mitschwingen oder gegen 
mich fühlen, und ich selber werde nicht ohne Erregung im 
Grunde meines Denkens mich bewegen. Wenn wir auch bei 
dem einseitigen Vortrag nicht faktisch miteinander spre¬ 
chen, so kann ich nicht vermeiden, daß mancher sich fast 
persönlich getroffen fühlt. Von vornherein bitte ich: Ver¬ 
zeihen Sie mir, wenn ich beleidige. Ich will es nicht. Aber 
ich bin entschlossen, die radikalsten Gedanken in möglich¬ 
ster Besonnenheit zu wagen. 

Wenn wir miteinander reden lernen, so gewinnen wir 
mehr als unsere eigene Verbindung. Wir schaffen so die un¬ 
erläßliche Grundlage, mit den andern Völkern reden zu 
können. 

Nehme ich vorweg, was uns erst am Ende dieser Vor¬ 
lesungen Thema werden soll: Für uns ist der Weg der Ge¬ 
walt hoffnungslos, der Weg der List würdelos und uner¬ 
giebig. In voller Offenheit und Ehrlichkeit liegt nicht nur 
unsere Würde - die auch in der Ohnmacht möglich ist -, 
sondern auch unsere eigene Chance. Es fragt sich für jeden 
Deutschen, ob er diesen Weg gehen will auf die Gefahr hin 
aller Enttäuschungen, auf die Gefahr hin weiterer Verluste 
und des bequemen Mißbrauchtwerdens von den Mächtigen. 
Die Antwort: dieser Weg ist der einzige, der unsere Seele 
vor dem Pariadasein bewahrt. Was auf ihm sich ergibt, 
müssen wir sehen. Es ist ein geistig politisches Wagnis am 
Abgrund. Wenn Erfolg möglich ist, dann nur auf lange 
Fristen. Man wird uns noch lange mißtrauen. 

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Zuletzt charakterisiere ich noch Weisen des Nichtredens, 
zu denen wir neigen und die unsere große Gefahr sind (ich 
kann meinerseits das Anklagen nicht umgehen, wenigstens 
nicht den geistigen Angriff auf die Gesinnung des Angrei¬ 
fens). 

Eine Haltung, die stolz schweigt, ist für eine kurze Weile 
wohl eine berechtigte Maske, hinter der man Atem holt und 
sich besinnt. Aber sie wird zur Selbsttäuschung und dem 
andern gegenüber zur List, wenn sie gestattet, sich trotzig 
in sich zu verbergen, das Klarwerden zu verhindern, sich 
der Ergriffenheit durch die Wirklichkeit zu entziehen. Wir 
müssen uns hüten, auszuweichen. Aus solcher Haltung er¬ 
wächst eine Stimmung, die im heimlichen, ungefährlichen 
Schimpfen sich entladet, die in herzloser Kälte und wütiger 
Empörtheit, in der Verkniffenheit des Ausdrucks zur un¬ 
fruchtbaren Selbstverzehrung führt. Der Stolz, der sich 
fälschlich für männlich hält und in der Tat ausweicht, 
nimmt das Schweigen noch als Kampfhandlung, als letzte 
in der Ohnmacht bleibende Kampfhandlung. 

Das Miteinanderreden ist aufgehoben auch durch das 
Sprechen, das verborgen nicht mehr spricht, das beleidi¬ 
gen, aber gar nicht eine Antwort hören will, vielmehr auf 
den Augenblick aus ist, wo man ohrfeigt und verborgen 
schon vorwegnimmt, was in Wirklichkeit Faust und Tot¬ 
schlag, Maschinengewehr und Bomber ist. Die Wut unter¬ 
scheidet nur Freund und Feind für den Kampf auf Leben 
und Tod, redet mit beiden nicht aufgeschlossen, sieht den 
Menschen nicht als Menschen, mit dem man sich verstän¬ 
digen will, indem man bereit ist zu Selbstkorrekturen. Wir 
können gar nicht gewissenhaft genug in unserem Umgang 
diese Weise des Kämpfens und Abbrechens bei uns durch¬ 
leuchten. 

§ 2. DIE GROSSEN VERSCHIEDENHEITEN ZWISCHEN UNS 

Das Miteinanderreden ist in Deutschland heute erschwert, 
aber darum erst recht die größte Aufgabe, weil wir unter 
uns in dem, was wir erlebt, gefühlt, gewünscht, geschätzt, 
getan haben, außerordentlich verschieden sind. Unter der 
Decke einer erzwungenen, äußerlichen Gemeinschaft ver¬ 
barg sich, was voll Möglichkeiten ist und sich jetzt entfalten 
kann. 


19 



Wir können sinnvoll miteinander reden nur, wenn wir 
die außerordentlichen Verschiedenheiten als Ausgangs¬ 
punkte, nicht als Endgültigkeiten anerkennen. Wir müssen 
die Schwierigkeiten in den von den eigenen ganz abwei¬ 
chenden Situationen und Haltungen sehen und mitfühlen 
lernen. Wir müssen die verschiedene Herkunft der gegen¬ 
wärtigen Haltung durch Erziehung, besondere Erfahrun¬ 
gen und Erlebnisse sehen. 

In Grundzügen gemeinsam ist uns Deutschen heute viel¬ 
leicht nur Negatives: die Zugehörigkeit zu einem festlos 
besiegten Staatsvolk, ausgeliefert der Gnade oder Ungnade 
der Sieger; der Mangel eines gemeinsamen uns alle ver¬ 
bindenden Bodens; die Zerstreutheit: jeder ist im wesent¬ 
lichen auf sich gestellt, und doch ist jeder als einzelner hilf¬ 
los. Gemeinsam ist die Nichtgemeinsamkeit. 

In dem Schweigen unter dem nivellierenden Reden der 
öffentlichen Propaganda der zwölf Jahre haben wir sehr 
verschiedene innere Haltungen eingenommen und sehr ver¬ 
schiedene innere Entwicklungen durchgemacht. Wir haben 
in Deutschland nicht eine einheitliche Verfassung unserer 
Seelen, unserer Wertschätzungen und Wünsche. Weil das, 
was wir alle die Jahre geglaubt haben, was wir für wahr 
hielten, was uns Sinn des Lebens war, so sehr voneinander 
abwich, darum muß auch jetzt die Weise der Verwandlung 
für den einzelnen verschieden sein. Wir alle verwandeln uns. 
Aber wir gehen nicht alle denselben Weg zu dem neuen, von 
uns gesuchten, uns wieder vereinigenden Boden der gemein¬ 
samen Wahrheit. Jeder darf in solcher Katastrophe sich um¬ 
schmelzen lassen zur Wiedergeburt, ohne fürchten zu müssen, 
dadurch ehrlos zu sein. Das, worauf wir schmerzvoll ver¬ 
zichten müssen, ist nicht für alle das gleiche, so wenig, daß 
das, was dem einen Verzicht ist, dem andern Gewinn schei¬ 
nen kann. Die Weise der Enttäuschung hält uns getrennt. 

Daß jetzt die Verschiedenheiten aufbrechen, ist die Folge 
davon, daß 12 Jahre keine öffentliche Diskussion möglich 
war und daß auch im Privatleben alles, was Opposition war, 
sich auf intimste Unterhaltungen beschränkte, ja zum Teil 
auch noch Freunden gegenüber zurückhaltend war. Öffent¬ 
lich und allgemein, daher suggestiv und für darin aufge¬ 
wachsene Jugend fast selbstverständlich war nur die natio¬ 
nalsozialistische Denk- und Redeweise. 


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Nun wir heute wieder frei reden können, finden wir uns 
so, als ob wir aus verschiedenen Welten kämen. Und doch 
sprechen wir alle die deutsche Sprache und sind alle in die¬ 
sem Lande geboren und haben hier unsere Heimat. 
Die Verschiedenheit, ja Weltenferne darf uns nicht ver¬ 
drießen. Wir wollen zueinander finden, miteinander reden, 
uns zu überzeugen suchen. Vergegenwärtigen wir uns einige 
typische Differenzen. 

Bis zur Unvereinbarkeit verschieden waren unsere Auf¬ 
fassungen von den Ereignissen: Einige erlebten den ganzen 
Bruch durch die Erfahrung der nationalen Würdelosigkeit 
schon 1933, andere seit Juni 1934, wieder andere 1938 mit 
den Judenpogromen, viele seit 1942, als die Niederlage 
wahrscheinlich, oder seit 1943, als sie gewiß war, einige erst 
1945, als sie tatsächlich eintrat. Für die ersten war 1945 
Befreiung zu neuen Möglichkeiten, für andere wurden es 
die schwersten Tage, weil das Ende des vermeintlich natio¬ 
nalen Reichs. 

Einige haben mit Radikalität den Ursprung des Unheils 
gesucht und die Konsequenz gezogen. Sie ersehnten schon 
1933 den Eingriff und Einmarsch der Westmächte. Denn 
sie sahen: nun die Türen des deutschen Zuchthauses zu¬ 
geworfen sind, kann Befreiung nur noch von außen kom¬ 
men. Die Zukunft der deutschen Seele war gebunden an 
diese Befreiung. Sollte die Zerstörung deutschen Wesens 
nicht vollendet werden, so mußte diese Befreiung möglichst 
schnell durch abendländisch gesinnte Bruderstaaten aus 
gemeinsamem europäischen Interesse geschehen. Diese Be¬ 
freiung geschah nicht, sondern der Weg ging bis zu 1945, 
bis zur furchtbarsten Zerstörung aller unserer physischen 
und moralischen Wirklichkeiten. 

Aber diese Auffassung ist uns gar nicht gemeinsam. 
Außer denen, die im Nationalsozialismus das goldene Zeit¬ 
alter sahen oder noch sehen, gab es Gegner des National¬ 
sozialismus, die doch überzeugt waren, daß ein Sieg Hitler¬ 
deutschlands nicht die Zerstörung deutschen Wesens zur 
Folge haben würde. Vielmehr sahen sie in einem solchen 
Sieg Deutschlands große Zukunft begründet, weil sie mein¬ 
ten, ein siegreiches Deutschland werde sich der Partei ent¬ 
ledigen, sei es sofort, sei es mit dem Tode Hitlers. Sie glaub¬ 
ten nicht dem alten Satz, daß jede Staatsmacht sich nur 


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durch die Kräfte halten kann, die sie begründet haben, 
glaubten nicht, daß der Terror aus der Natur der Sache 
heraus gerade nach dem Siege unbrechbar, daß Deutsch¬ 
land nach einem Siege und nach der Entlassung der Armee 
von der SS als Sklavenvolk in Schach gehalten worden 
wäre zur Ausübung einer öden, vernichtenden, freiheitlosen 
Weltherrschaft, in der alles Deutsche erstickt wäre. 

Eine weitere Verschiedenheit liegt in der Weise der Not, 
die, obgleich uns allen gemeinsam, in ihrer besonderen Er¬ 
scheinung nach Maß und Art außerordentlich unterschie¬ 
den ist. Nächste Angehörige und Freunde sind umgekom¬ 
men oder verschollen. Wohnungen liegen in Trümmern. 
Besitztum ist vernichtet. Wohl hat jeder Sorgen, starke 
Einschränkungen, physisches Leid, aber es ist etwas ganz 
anderes: ob einer noch Wohnung und Hausrat hat oder 
bombenvernichtet lebt; ob einer sein Leid und seine Ver¬ 
luste im Kampf der Front, zu Hause oder im KZ hatte; 
ob er zu den Gestapoverfolgten oder zu den Nutznießern 
des Regimes, wenn auch in Angst, gehörte. Fast jeder hat 
nächste Freunde und Angehörige verloren, wie aber er sie 
verloren hat, durch Kampf an der Front, Bomben, KZ oder 
den Massenmord seitens des Regimes, das hat sehr abwei¬ 
chende innere Haltungen zur Folge. Millionen Kriegsver¬ 
sehrte suchen ihre Lebensform. Hunderttausende sind aus 
den Konzentrationslagern gerettet. Millionen werden eva¬ 
kuiert und auf die Wanderschaft getrieben. Der größte Teil 
der männlichen Bevölkerung hat die Gefangenenlager durch¬ 
gemacht und Erfahrungen sehr entgegengesetzter Art ge¬ 
habt. Viele Menschen sind an die Grenzen des Menschlichen 
gestoßen und heimgekehrt und können nicht vergessen, was 
wirklich war. Zahllose werden durch die Denazifikation aus 
ihrer bisherigen Bahn geworfen. Die Not ist der Art nach 
verschieden. Die meisten haben nur für die eigene einen 
wirklichen Sinn. Jeder neigt dazu, große Verluste und Lei¬ 
den als Opfer zu deuten, aber wofür dieses Opfer war, das 
ist so abgründig verschieden deutbar, daß es die Menschen 
zunächst trennt. 

Gewaltig ist der Unterschied durch den Verlust eines 
Glaubens. Uns allen ist zwar in irgendeiner Weise der Bo¬ 
den unter den Füßen weggezogen. Nur ein transzendent 
gegründeter religiöser oder philosophischer Glaube kann 


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sich durch alle diese Katastrophen halten. Was in der Welt 
galt, wurde brüchig. Der gläubige Nationalsozialist kann 
nur durch Gedanken, die noch absurder sind als die der 
Zeit seiner Herrschaft, nach hinfälligen Träumen haschen. 
Der Nationalist steht ratlos zwischen der Verworfenheit des 
Nationalsozialismus, die er durchschaut, und der Realität 
der Lage Deutschlands. 

Gewaltig ist auch der Unterschied an Art und Maß der 
Schuld. Niemand ist schuldlos Wir werden die Frage in 
späteren Stunden erörtern. 

Aber niemand steht außerhalb des Menschseins, sofern 
er seine Schuld büßt. 

Wohl ist es sinnvoll, daß je nach seiner Vergangenheit 
der einzelne sich zurückhält, verzichtet - es gilt von ein¬ 
zelnen, nicht vielen, daß sie jetzt zunächst vielleicht schwei¬ 
gen sollten. 

In Deutschland bestehen nicht nur die Unterschiede zwi¬ 
schen den eigentümlichen durch das deutsche Verhängnis 
begründeten Stellungen, sondern es gibt hier auch dieselben 
Parteiungen, die dem gesamten Abendland gemeinsam sind, 
die sozialistischen und bürgerlich-kapitalistischen Tenden¬ 
zen, die politisch werdenden Konfessionen, den demokrati¬ 
schen Freiheitswillen und die Neigung zur Diktatur. Und 
nicht nur das. Es kann uns geschehen, daß diese Gegen¬ 
sätze von den alliierten Mächten her auf uns wirken und 
an uns als einem jetzt politisch ohnmächtigen, nachgiebigen 
Versuchsmaterial arbeiten. 

Alle diese Verschiedenheiten führen ständig zum Ab¬ 
bruch zwischen uns Deutschen, zur Zerstreuung und Tei¬ 
lung von einzelnen und Gruppen, dies um so mehr, weil 
unserem Dasein die gemeinsame ethisch-politische Grund¬ 
lage fehlt. Wir haben Schatten nur des wirklich gemein¬ 
samen politischen Bodens, auf dem stehend wir solidarisch 
bleiben könnten auch in den heftigsten Auseinandersetzun¬ 
gen. Uns mangelt in hohem Maße das Miteinanderreden 
und Aufeinanderhören. Uns mangelt Beweglichkeit, Kritik 
und Selbstkritik. Wir neigen zum Doktrinären. 

Dies wird verschlimmert dadurch, daß so viele Menschen 
nicht eigentlich nachdenken wollen. Sie suchen nur Schlag¬ 
worte und Gehorsam. Sie fragen nicht und sie antworten 
nicht, außer durch Wiederholung eingelernter Redensarten. 


23 



Sie können nur behaupten und gehorchen, nicht prüfen und 
einsehen, daher auch nicht überzeugt werden. Wie soll man 
reden mit Menschen, die nicht mitgehen wollen, wo ge¬ 
prüft und nachgedacht wird, und wo Menschen ihre Selb¬ 
ständigkeit durch Einsicht und Überzeugung suchen! 

Oft drängt sich einfach die Verschiedenheit der Charakter¬ 
anlage vor. Manche Menschen neigen jederzeit zur Oppo¬ 
sition, andere zum Mitläufertum. 

Deutschland kann nur wieder zu sich kommen, wenn wir 
Deutschen in der Kommunikation zueinander finden. Die 
allgemeine Lage scheint uns nur durch Negation zu ver¬ 
binden. Wenn wir lernen, wirklich miteinander zu reden, 
so doch nur im Bewußtsein unserer großen Verschiedenheit. 

Einheit durch Zwang taugt nichts; sie verfliegt als Schein 
in der Katastrophe. Einmütigkeit durch Miteinanderreden 
und Verstehen, durch gegenseitiges Dulden und Nachgeben 
führt zur Gemeinschaft, die standhält. 

Wenn wir Typisches darstellten und in den folgenden Er¬ 
örterungen entwickeln werden, so braucht sich niemand zu 
klassifizieren. Wer auf sich bezieht, tut es auf eigene Ver¬ 
antwortung. 

§ 3 . PLAN DER FOLGENDEN ERÖRTERUNGEN 

Wir wollen Orientierung über unsere Lage, suchen die 
Frage zu beantworten, was zu ihr geführt hat, dann zu 
sehen, was wir sind und sein sollen, was eigentlich deutsch 
ist, und schließlich zu fragen, was wir noch wollen können. 

I) Die Geschichte ist jetzt erst endgültig Weltgeschichte, 
Menschheitsgeschichte des Erdballs, geworden. Die eigene 
Situation ist daher nur zugleich mit der weltgeschichtlichen 
Lage zu erfassen. Was heute geschehen ist, hat seinen Grund 
in allgemeinen Ereignissen und Zuständen der Menschheit. 
Dazu kommen erst besondere Zusammenhänge innerhalb 
der Völker und Entschlüsse einzelner Gruppen von Men¬ 
schen. 

Was geschieht, ist eine Krise der Menschheit. Der Bei¬ 
trag einzelner Völker und Staaten, der verhängnisvolle oder 
rettende, kann nur im Rahmen des Ganzen gesehen wer¬ 
den, so auch die Zusammenhänge, die zu diesem Kriege 
geführt haben, und die Erscheinungen, die in ihm auf neue 
grauenvolle Weise offenbar machten, was der Mensch sein 


24 



kann. Nur in solchem Gesamtzusammenhang kann auch 
die Schuldfrage gerecht zugleich und unerbittlich erörtert 
werden. Daher stellen wir an den Anfang ein Thema, in 
dem noch gar nicht von Deutschland die Rede ist. Das All¬ 
gemeine des Zeitalters, wie es als technisches Zeitalter und 
in der großen Politik und in dem Verlust oder der Verwand¬ 
lung allen Glaubens sich zeigt. 

Nur in der Vergegenwärtigung dieses Allgemeinen kann 
man unterscheiden, was allen Menschen zukommt, und was 
einer besonderen Gruppe eigen ist; oder weiter: was in der 
Natur der Sache, im Gang der Dinge liegt, und was freiem 
menschlichen Entschluß zuzurechnen ist. 

II) Vor dem Hintergrund dieses Allgemeinen suchen wir 
zweitens den Weg zur deutschen Frage: Wir vergegenwärti¬ 
gen unsere reale Lage als Quelle unserer geistigen Lage - 
charakterisieren den Nationalsozialismus -, fragen, wie er 
möglich war und wie es zu ihm gekommen ist - und er¬ 
örtern schließlich die Schuldfrage *. 

III) Nach der Vergegenwärtigung des Unheils fragen wir 
drittens: was ist deutsch? Wir wollen deutsche Geschichte, 
deutschen Geist, die Verwandlungen unseres deutschen 
Nationalbewußtseins und große deutsche Menschen sehen. 

Solche geschichtliche Selbstbesinnung unseres Deutsch¬ 
seins ist zugleich ethische Selbstprüfung. Was wir selber 
wollen und sollen, sehen wir im Spiegel unserer Geschichte. 
Wir hören es aus dem Anspruch unserer hohen Ahnen und 
ergreifen es zugleich mit der Erhellung der geschichtlichen 
Idole, die uns in die Irre führten. 

Was wir für deutsch halten, ist nie nur Erkenntnis, son¬ 
dern ethischer Entschluß, ein Faktor im Werden des Deut¬ 
schen. Was das eigene Volk ist, ist endgültig erst entschie¬ 
den, wenn es historisch abgeschlossen, nur Vergangenheit, 
nicht mehr Zukunft ist (wie das alte Griechentum). 

IV) Dies, daß wir noch leben, noch in der Geschichte und 
nicht am absoluten Ende stehen, führt viertens zur Frage, 
was für uns noch möglich ist. Hat der Deutsche noch eine 
Kraft im politischen Untergang, in wirtschaftlicher wie 
politischer Ohnmacht? Oder ist doch schon das Ende da? 


* Nur dieser letzte Abschnitt über die Schuldfrage ist im Folgenden 
veröffentlicht, seinem Inhalt nach ausgearbeitet und von der Vor¬ 
lesungsform befreit. 


25 



Die Antwort wird gegeben durch Entwurf des Ethos, das 
uns bleibt - und wenn es das Ethos eines Volkes wäre, das 
der Welt heute als Pariavolk gilt. 



DIE SCHULDFRAGE 



EINLEITUNG 


F ast die gesamte Welt erhebt Anklage gegen Deutschland 
und gegen die Deutschen. Unsere Schuld wird erörtert 
mit Empörung, mit Grauen, mit Haß, mit Verachtung. 
Man will Strafe und Vergeltung. Nicht nur die Sieger, auch 
einige unter den deutschen Emigranten, sogar Angehörige 
neutraler Staaten beteiligen sich daran. In Deutschland 
gibt es Menschen, welche Schuld, sich selber einschließend, 
bekennen, gibt es viele, die sich für schuldfrei halten, aber 
andere für schuldig erklären. 

Es liegt nahe, der Frage sich zu entziehen. Wir leben in 
Not, ein großer Teil unserer Bevölkerung in so großer, so 
unmittelbarer Not, daß er unempfindlich geworden zu sein 
scheint für solche Erörterungen. Ihn interessiert, was der 
Not steuert, was Arbeit und Brot, Wohnung und Wärme 
bringt. Der Horizont ist eng geworden. Man mag nicht 
hören von Schuld, von Vergangenheit, man ist nicht be¬ 
troffen von der Weltgeschichte. Man will einfach aufhören 
zu leiden, will heraus aus dem Elend, will leben, aber nicht 
nachdenken. Es ist eher eine Stimmung, als ob man nach 
so furchtbarem Leid gleichsam belohnt, jedenfalls getröstet 
werden müßte, aber nicht noch mit Schuld beladen werden 
dürfte. 

Trotzdem: auch wer sich dem Äußersten preisgegeben 
weiß, fühlt doch in Augenblicken den Drang nach ruhiger 
Wahrheit. Es ist nicht gleichgültig und nicht nur ein Gegen¬ 
stand des Unwillens, daß zur Not auch noch die Anklage 
kommt. Wir wollen klar werden, ob diese Anklage Recht 
oder Unrecht ist und in welchem Sinne. Denn gerade in 
der Not kann das Unerläßlichste um so fühlbarer sein: in 
der eigenen Seele rein zu werden und das Rechte zu denken 
und zu tun, um aus echtem Ursprung vor dem Nichts das 
Leben ergreifen zu können. 

In der Tat sind wir Deutschen ohne Ausnahme verpflich¬ 
tet, in der Frage unserer Schuld klar zu sehen und die Fol¬ 
gerungen zu ziehen. Unsere Menschenwürde verpflichtet 
uns. Schon was die Welt über uns denkt, kann uns nicht 
gleichgültig sein; denn wir wissen uns zur Menschheit ge¬ 
hörig, sind zuerst Menschen und dann Deutsche. Wichtiger 
aber noch ist uns, daß unser eigenes Leben in Not und 
Abhängigkeit seine Würde nur noch durch Wahrhaftigkeit 


29 



uns selbst gegenüber haben kann. Die Schuldfrage ist mehr 
noch als eine Frage seitens der andern an uns eine Frage 
von uns an uns selbst. Wie wir ihr in unserem Innersten 
antworten, das begründet unser gegenwärtiges Seins- und 
Selbstbewußtsein. Sie ist eine Lebensfrage der deutschen 
Seele. Nur über sie kann eine Umkehrung stattfinden, die 
uns zu der Erneuerung aus dem Ursprung unseres Wesens 
bringt. Die Schuldigerklärungen seitens der Sieger haben 
zwar die größten Folgen für unser Dasein, sie haben politi¬ 
schen Charakter, aber sie helfen uns nicht im Entscheiden¬ 
den: der inneren Umkehrung. Hier haben wir es allein mit 
uns selbst zu tun. Philosophie und Theologie sind berufen, 
die Tiefe der Schuldfrage zu erhellen. 

Die Erörterungen der Schuldfrage leiden oft an der Ver¬ 
mischung von Begriffen und Gesichtspunkten. Um wahr 
zu werden, bedarf es der Unterscheidungen. Ich entwerfe 
diese Unterscheidungen zunächst im Schema, um dann mit 
ihnen unsere gegenwärtige deutsche Lage zu klären. Zwar 
gelten die Unterscheidungen nicht absolut. Am Ende liegt 
der Ursprung dessen, was wir Schuld nennen, in einem ein¬ 
zigen Umfassenden. Aber dies kann klar nur werden durch 
das, was auf dem Wege über die Unterscheidungen gewon¬ 
nen ist. 

Unsere dunklen Gefühle verdienen nicht ohne weiteres 
Vertrauen. Unmittelbarkeit ist zwar die eigentliche Wirk¬ 
lichkeit, ist die Gegenwärtigkeit unserer Seele. Aber Ge¬ 
fühle sind nicht wie vitale Gegebenheiten einfach da. Son¬ 
dern sie sind vermittelt durch unser inneres Handeln, unser 
Denken, unser Wissen. Sie werden vertieft und geklärt in 
dem Maße als wir denken. Auf das Gefühl als solches ist 
kein Verlaß. Sich auf Gefühle zu berufen ist die Naivität, 
die der Objektivität des Wißbaren und Denkbaren aus¬ 
weicht. Erst nach allseitigem Durchdenken und Vergegen¬ 
wärtigen einer Sache, ständig begleitet, geführt und gestört 
von Gefühlen, kommen wir zum wahren Gefühl, aus dem 
wir jeweils verläßlich zu leben vermögen. 


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A. SCHEMATIK DER UNTERSCHEIDUNGEN 


§ 1. VIER SCHULDBEGRIFFE 

Es ist zu unterscheiden: 

1) Kriminelle Schuld: Verbrechen bestehen in objektiv 
nachweisbaren Handlungen, die gegen eindeutige Gesetze 
verstoßen. Instanz ist das Gericht, das in formellem Ver¬ 
fahren die Tatbestände zuverlässig festlegt und auf diese 
die Gesetze anwendet. 

2) Politische Schuld: Sie besteht in den Handlungen der 
Staatsmänner und in der Staatsbürgerschaft eines Staates, 
infolge derer ich die Folgen der Handlungen dieses Staates 
tragen muß, dessen Gewalt ich unterstellt bin, und durch 
dessen Ordnung ich mein Dasein habe. Es ist jedes Men¬ 
schen Mitverantwortung, wie er regiert wird. Instanz ist 
die Gewalt und der Wille des Siegers, in der inneren wie 
in der äußeren Politik. Der Erfolg entscheidet. Eine Er¬ 
mäßigung von Willkür und Gewalt geschieht durch politi¬ 
sche Klugheit, die an weitere Folgen denkt, und durch An¬ 
erkennung von Normen, die unter dem Namen von Natur¬ 
recht und Völkerrecht gelten. 

3) Moralische Schuld: Für Handlungen, die ich doch im¬ 
mer als dieser einzelne begehe, habe ich die moralische Ver¬ 
antwortung, und zwar für alle meine Handlungen, auch für 
politische und militärische Handlungen, die ich vollziehe. 
Niemals gilt schlechthin »Befehl ist Befehl«. Wie vielmehr 
Verbrechen Verbrechen bleiben, auch wenn sie befohlen 
sind (obgleich je nach dem Maße von Gefahr, Erpressung 
und Terror mildernde Umstände gelten), so bleibt jede 
Handlung auch der moralischen Beurteilung unterstellt. 
Die Instanz ist das eigene Gewissen und die Kommuni¬ 
kation mit dem Freunde und dem Nächsten, dem lieben¬ 
den, an meiner Seele interessierten Mitmenschen 

4) Metaphysische Schuld: Es gibt eine Solidarität zwi¬ 
schen Menschen als Menschen, welche einen jeden mitver¬ 
antwortlich macht für alles Unrecht und alle Ungerechtig¬ 
keit in der Welt, insbesondere für Verbrechen, die in seiner 
Gegenwart oder mit seinem Wissen geschehen. Wenn ich 
nicht tue, was ich kann, um sie zu verhindern, so bin ich 
mitschuldig. Wenn ich mein Leben nicht eingesetzt habe zur 


31 



Verhinderung der Ermordung anderer, sondern dabeigestan¬ 
den bin, fühle ich mich auf eine Weise schuldig, die juri¬ 
stisch, politisch und moralisch nicht angemessen begreiflich 
ist. Daß ich noch lebe, wenn solches geschehen ist, legt sich 
als untilgbare Schuld auf mich. Wir kommen als Menschen, 
wenn nicht ein Glück uns diese Situation erspart, an die 
Grenze, wo wir wählen müssen: entweder ohne Zweck, weil 
ohne Erfolgsaussicht, bedingungslos das Leben einzusetzen, 
oder wegen Erfolgsunmöglichkeit vorzuziehen am Leben zu 
bleiben. Daß irgendwo zwischen Menschen das Unbedingte 
gilt, nur gemeinsam oder gar nicht leben zu können, falls 
dem einen oder anderen Verbrechen angetan werden, oder 
falls es sich um die Teilung physischer Lebensbedingungen 
handelt, das macht die Substanz ihres Wesens aus. Aber 
daß dies nicht in der Solidarität aller Menschen, nicht der 
Staatsbürger, nicht einmal kleinerer Gruppen liegt, son¬ 
dern auf engste menschliche Verbindung beschränkt bleibt, 
das macht diese Schuld von uns allen. Instanz ist Gott 
allein. - 

Diese Unterscheidung von vier Schuldbegriffen klärt den 
Sinn von Vorwürfen. So bedeutet z.B. politische Schuld 
zwar Haftung aller Staatsbürger für die Folgen staatlicher 
Handlungen, nicht aber kriminelle und moralische Schuld 
jedes einzelnen Staatsbürgers in bezug auf Verbrechen, die 
im Namen des Staates begangen wurden. Über Verbrechen 
kann der Richter, über politische Haftung der Sieger ent¬ 
scheiden; über moralische Schuld kann wahrhaft nur in 
liebendem Kampfe unter sich solidarischer Menschen ge¬ 
sprochen werden. Über metaphysische Schuld ist vielleicht 
Offenbarung in konkreter Situation, im Werk der Dichtung 
und der Philosophie möglich, aber kaum persönliche Mit¬ 
teilung. Sie ist am tiefsten den Menschen bewußt, die ein¬ 
mal zu der Unbedingtheit kamen, aber gerade dadurch das 
Versagen erfuhren, daß sie diese Unbedingtheit nicht allen 
Menschen gegenüber aufbringen. Es bleibt die Scham eines 
ständig Gegenwärtigen, konkret nicht Aufzudeckenden, 
allenfalls nur allgemein zu Erörternden. 

Die Unterscheidungen zwischen den Schuldbegriffen sol¬ 
len uns bewahren vor der Flachheit des Schuldgeredes, in 
dem alles stufenlos auf eine einzige Ebene gezogen wird, 
um es im groben Zufassen in der Weise eines schlechten 


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Richters zu beurteilen. Aber die Unterscheidungen sollen 
am Ende uns zurückführen zu dem einen Ursprung, von 
dem als unserer Schuld geradezu zu sprechen unmöglich ist. 

Alle solche Unterscheidungen werden daher zum Irrtum, 
wenn nicht bewußt bleibt, wie sehr das Unterschiedene 
auch zusammenhängt. Jeder Schuldbegriff zeigt Wirklich¬ 
keiten, welche Folgen für die Sphären der anderen Schuld¬ 
begriffe haben. 

Würden wir Menschen von jener metaphysischen Schuld 
uns befreien können, wir wären Engel und alle drei anderen 
Schuldbegriffe würden gegenstandslos. 

Moralische Verfehlungen sind Grund der Zustände, in 
denen die politische Schuld und das Verbrechen erst er¬ 
wachsen. Das Begehen der zahllosen kleinen Handlungen 
der Lässigkeit, der bequemen Anpassung, des billigen Recht- 
fertigens des Unrechten, der unmerklichen Förderung des 
Unrechten, die Beteiligung an der Entstehung der öffent¬ 
lichen Atmosphäre, welche Unklarheit verbreitet, und die 
als solche das Böse erst möglich macht, alles das hat Folgen, 
die die politische Schuld für die Zustände und das Gesche¬ 
hen mit bedingen. 

Zum Moralischen gehört auch die Unklarheit über die Be¬ 
deutung der Macht im menschlichen Zusammenleben. Die 
Verschleierung dieses Grundtatbestandes ist ebensosehr eine 
Schuld wie die falsche Verabsolutierung der Macht zum 
allein bestimmenden Faktor der Ereignisse. Es ist das Ver¬ 
hängnis jedes Menschen, verstrickt zu sein in Machtverhält¬ 
nisse, durch die er lebt. Dieses ist die unausweichliche Schuld 
aller, die Schuld des Menschseins. Ihr wird entgegengewirkt 
durch Einsatz für die Macht, welche das Recht, die Men¬ 
schenrechte, verwirklicht. Das Unterlassen der Mitarbeit an 
der Strukturierung der Machtverhältnisse, am Kampfe um 
die Macht im Sinne des Dienstes für das Recht, ist eine 
politische Grundschuld die zugleich eine moralische Schuld 
ist. Politische Schuld wird zur moralischen Schuld, wo durch 
die Macht der Sinn der Macht - die Verwirklichung des 
Rechtes, das Ethos und die Reinheit des eigenen Volkes - 
zerstört wird. Denn wo die Macht sich nicht selbst begrenzt, 
ist Gewalt und Terror und das Ende die Vernichtung von 
Dasein und Seele. 

Aus der moralischen Lebensart der meisten einzelnen, 


33 



breiter Volkskreise, im Alltagsverhalten erwächst das je¬ 
weils bestimmte politische Verhalten und damit der poli¬ 
tische Zustand Aber der einzelne lebt wiederum unter der 
Voraussetzung des geschichtlich schon erwachsenen poli¬ 
tischen Zustandes, der durch Ethos und Politik der Vor¬ 
fahren wirklich und durch die Weltlage möglich wurde; 
Hier gibt es die beiden im Schema entgegengesetzten Mög¬ 
lichkeiten: 

Das Ethos des Politischen ist Prinzip eines staatlichen 
Daseins, an dem alle beteiligt sind durch ihr Bewußtsein, 
ihr Wissen, ihr Meinen und Wollen. Es ist das Leben poli¬ 
tischer Freiheit als ständige Bewegung des Verfalls und des 
Bessermachens. Dies Leben ist ermöglicht durch die Auf¬ 
gabe und Chance der Mitverantwortung aller. 

Oder es herrscht ein Zustand der Fremdheit der meisten 
zum Politischen. Die Staatsmacht wird nicht als die eigene 
Sache gefühlt. Man weiß sich nicht mitverantwortlich, son¬ 
dern sieht politisch untätig zu, arbeitet und handelt in blin¬ 
dem Gehorsam. Man hat ein gutes Gewissen sowohl im Ge¬ 
horsam wie in der Unbeteiligung an dem, was die Gewalt¬ 
haber entscheiden und tun. Man duldet die politische Rea¬ 
lität als etwas Fremdes, man sucht durch List mit ihr fertig 
zu werden zugunsten seiner persönlichen Vorteile, oder lebt 
mit in blinder Begeisterung des Sichopferns. 

Es ist der Unterschied der politischen Freiheit* und der 
politischen Diktatur, seit Herodot aufgefaßt als Unter¬ 
schied des Abendlandes und des Orients (griechischer Frei¬ 
heit und persischer Despotie). Aber es ist zumeist nicht 
mehr Sache der einzelnen, zu entscheiden, welcher Zustand 
herrschen soll. Der einzelne wird hineingeboren, durch 
Glück oder Verhängnis; er muß übernehmen, was über¬ 
kommen und wirklich ist. Kein einzelner und keine Gruppe 
kann mit einem Schlage oder auch nur in einer einzigen 
Generation diese Voraussetzung ändern, durch die wir in 
der Tat alle leben. 

§ 2 . FOLGEN DER SCHULD 

Die Schuld hat Folgen nach außen für das Dasein, ob nun 
der Betroffene es begreift oder nicht, und hat Folgen nach 

* »Thesen über politische Freiheit« habe ich veröffentlicht in der 
»Wandlung« Heft 6, Seite 460 ff. 


34 



innen für das Selbstbewußtsein, wenn ich in der Schuld 
mich durchschaue. 

a) Das Verbrechen findet Strafe. Voraussetzung ist die 
Anerkenntnis des Schuldigen seitens des Richters in seiner 
freien Willensbestimmung, nicht die Anerkenntnis des Be¬ 
straften, daß er mit Recht bestraft werde. 

b) Für die politische Schuld gibt es Haftung und als ihre 
Folge Wiedergutmachung und weiter Verlust oder Ein¬ 
schränkung politischer Macht und politischer Rechte. Steht 
die Schuld im Zusammenhang von Ereignissen, die durch 
Krieg ihre Entscheidung finden, so kann für die Besiegten 
die Folge sein: Vernichtung, Deportation, Ausrottung. Oder 
es kann der Sieger die Folgen in eine Form des Rechtes und 
damit des Maßes überführen, wenn er will. 

c) Der moralischen Schuld erwächst Einsicht, damit Buße 
und Erneuerung. Es ist ein innerer Prozeß, der dann auch 
reale Folgen in der Welt hat. 

d) Die metaphysische Schuld hat zur Folge eine Ver¬ 
wandlung des menschlichen Selbstbewußtseins vor Gott. Der 
Stolz wird gebrochen. Diese Selbstverwandlung durch in¬ 
neres Handeln kann zu einem neuen Ursprung aktiven Le¬ 
bens führen, aber verbunden mit einem untilgbaren Schuld¬ 
bewußtsein in der Demut, die sich vor Gott bescheidet und 
alles Tun in eine Atmosphäre taucht, in der Übermut un¬ 
möglich wird. 

§ 3. GEWALT • RECHT • GNADE 

Daß zwischen Menschen durch Gewalt entschieden wird, 
wenn sie sich nicht verständigen, und daß alle staatliche 
Ordnung Bändigung dieser Gewalt ist, jedoch so, daß sie 
bleibt - nach innen als Erzwingung des Rechtes, nach 
außen als Krieg -, das wurde in ruhigen Zeiten fast ver¬ 
gessen. 

Wo mit dem Krieg die Situation der Gewalt eintritt, hört 
das Recht auf. Wir Europäer haben versucht, auch dann 
noch einen Rest von Recht und Gesetz aufrecht zu erhal¬ 
ten durch die Völkerrechtsbestimmungen, die auch im 
Kriege gelten und die zuletzt in der Haager und Genfer Kon¬ 
vention niedergelegt waren. Es scheint vergeblich gewesen 
zu sein. 

Wo Gewalt angewandt wird, wird Gewalt erweckt. Der 


35 



Sieger hat die Entscheidung, was mit dem Besiegten ge¬ 
schehen soll. Es gilt das vae victis. Der Besiegte hat nur die 
Wahl, zu sterben oder zu tun und zu leiden, was der Sieger 
will. Er hat von jeher zumeist das Leben vorgezogen (hier 
wurzelt das Grundverhältnis von Herr und Knecht, wie es 
Hegel tiefsinnig erhellt hat). 

Recht ist der hohe Gedanke der Menschen, die ihr Dasein 
auf einen Ursprung gründen, der zwar nur durch Gewalt 
gesichert aber nicht durch Gewalt bestimmt wird. Wo Men¬ 
schen ihres Menschseins bewußt werden und den Menschen 
als Menschen anerkennen, da erfassen sie Menschenrechte 
und gründen sich auf ein Naturrecht, an das jeder, Sieger 
und Besiegter, appellieren kann. 

Sobald der Rechtsgedanke auftaucht, kann verhandelt 
werden, um das wahre Recht durch Diskussion und metho¬ 
disches Verfahren zu finden. 

Was im Falle eines vollständigen Sieges zwischen Sieger 
und Besiegten und für die Besiegten rechtens ist, das ist 
allerdings bis heute immer nur ein sehr begrenzter Bezirk 
in den Ereignissen, die durch politische Willensakte ent¬ 
schieden werden. Diese werden zur Grundlage eines positi¬ 
ven, faktischen Rechtes, werden selber nicht mehr durch 
Recht gerechtfertigt. 

Recht kann sich nur beziehen auf Schuld im Sinne von 
Verbrechen und im Sinne politischer Haftung, nicht auf 
moralische und metaphysische Schuld. 

Aber Anerkennung des Rechts kann auch der vollziehen, 
der der bestrafte oder haftende Teil ist. Der Verbrecher 
kann es als seine Ehre und Wiederherstellung erfahren, daß 
er bestraft wird. Der politisch Haftende kann es als durch 
Schicksalsschluß gegeben anerkennen, was er von nun an 
als seine Daseinsvoraussetzung übernehmen muß. 

Gnade ist der Akt, der die Auswirkung reinen Rechts und 
vernichtender Gewalt einschränkt. Eine Menschlichkeit 
spürt höhere Wahrheit, als in der geradlinigen Konsequenz 
sowohl des Rechtes wie der Gewalt liegt. 

a) Trotz des Rechts wirkt Barmherzigkeit, um den Raum 
gesetzesfreier Gerechtigkeit zu öffnen. Denn alle mensch¬ 
liche Satzung ist in ihrer Auswirkung voller Gebrechen und 
Ungerechtigkeit. 

b) Trotz der Möglichkeit der Gewalt übt der Sieger Gna- 


36 



de, sei es aus Zweckmäßigkeit, weil die Besiegten ihm die¬ 
nen können, sei es aus Großmut, weil ihm das am Leben¬ 
lassen der Besiegten ein gesteigertes Gefühl seiner Macht 
und seines Maßes gibt, oder weil er in seinem Gewissen sich 
unter die Forderungen eines allgemeinmenschlichen Natur¬ 
rechts stellt, das dem Besiegten so wenig wie dem Verbre¬ 
cher alle Rechte nimmt. 

§ 4. WER URTEILT UND WER ODER WAS WIRD BEURTEILT? 

In dem Hagel der Anklagen fragt man: wer wen? Eine An¬ 
klage ist sinnvoll nur, wenn sie bestimmt ist durch ihren 
Gesichtspunkt und ihren Gegenstand, und wenn sie sich 
dadurch begrenzt, und klar nur, wenn man weiß, wer der 
Ankläger und wer der Beklagte ist. 

a) Gliedern wir den Sinn zunächst am Leitfaden der vier 
Weisen von Schuld. Der Beschuldigte hört die Vorwürfe 
von außen aus der Welt oder von innen aus der eigenen 
Seele. 

Von außen sind sie sinnvoll nur inbezug auf Verbrechen 
und auf politische Schuld. Sie werden ausgesprochen mit 
dem Willen, Strafe zu bewirken und haftbar zu machen. 
Sie gelten juristisch und politisch, nicht moralisch und nicht 
metaphysisch. 

Von innen hört der Schuldige die Vorwürfe in bezug auf 
sein moralisches Versagen und seine metaphysische Brü¬ 
chigkeit, und sofern hier der Ursprung politischen und ver¬ 
brecherischen Handelns oder Nichthandeins liegt, auch in 
bezug auf diese. 

Moralisch kann man Schuld nur sich selber geben, nicht 
dem andern, oder doch nur dem andern in der Solidarität 
liebenden Kampfes. Niemand kann den andern moralisch 
richten, es sei denn errichtet ihn in der inneren Verbunden¬ 
heit, als ob er es selbst wäre. Nur wo der andere wie ich 
selbst für mich ist, da ist die Nähe, die in freier Kommu¬ 
nikation gemeinsame Sache werden lassen kann, was zu¬ 
letzt ein jeder in der Einsamkeit vollzieht. 

Schuld des andern behaupten, das kann nicht die Ge¬ 
sinnung treffen, sondern nur bestimmte Handlungen und 
Verhaltungsweisen. Bei der individuellen Beurteilung sucht 
man zwar die Gesinnung und die Motive zu berücksichti¬ 
gen, kann dies aber wahrheitsgemäß nur erreichen, soweit 


37 



auch diese an objektiven Kennzeichen, d.h. Handlungen 
und Verhaltungsweisen, feststellbar sind. 

b) Es ist die Frage, in welchem Sinne ein Kollektiv, in 
welchem nur der einzelne beurteilt werden kann. Ohne 
Zweifel ist es sinnvoll, alle Staatsangehörigen eines Staates 
für die Folgen haftbar zu machen, die aus dem Handeln 
dieses Staates entstehen. Hier wird ein Kollektiv getroffen. 
Diese Haftung aber ist bestimmt und begrenzt, ohne mora¬ 
lische und metaphysische Beschuldigung der einzelnen. 
Sie trifft auch diejenigen Staatsangehörigen, welche sich 
gegen das Regime und gegen die in Betracht kommenden 
Handlungen gewehrt haben. Analog gibt es Haftungen für 
die Angehörigkeit zu Organisationen, Parteien, Gruppen. 

Für Verbrechen kann je nur der einzelne bestraft werden 
sei es, daß er es allein ist, oder daß er eine Reihe von Kom¬ 
plizen hat, die jeder für sich nach dem Maße der Teilnahme 
und im Minimum schon durch ihre bloße Zugehörigkeit zu 
dieser Gesellschaft zur Rechenschaft gezogen werden. Es 
gibt Zusammenrottungen von Räuberbanden, Verschwö¬ 
rern, die als Ganzes als verbrecherisch gekennzeichnet wer¬ 
den können. Dann macht die bloße Zugehörigkeit straffällig. 
Es ist aber sinnwidrig, ein Volk als Ganzes eines Verbre¬ 
chens zu beschuldigen. Verbrecher ist immer nur der ein¬ 
zelne. 

Es ist auch sinnwidrig, ein Volk als Ganzes moralisch 
anzuklagen. Es gibt keinen Charakter eines Volkes derart, 
daß jeder einzelne der Volkszugehörigen diesen Charakter 
hätte. Wohl gibt es Gemeinsamkeiten der Sprache, der Sit¬ 
ten und Gewohnheiten, der Herkunft. Aber darin sind zu¬ 
gleich derartig starke Differenzen möglich, daß Menschen, 
die dieselbe Sprache reden, doch darin sich so fremd bleiben 
können, als ob sie gar nicht zum gleichen Volke gehörten. 

Moralisch kann immer nur der einzelne, nie ein Kollektiv 
beurteilt werden. Die Denkform, die Menschen in Kollek¬ 
tiven anzuschauen, zu charakterisieren und zu beurteilen, 
ist ungemein verbreitet. Solche Charakteristiken - etwa 
der Deutschen, der Russen, der Engländer - treffen nie Gat¬ 
tungsbegriffe, unter denen die einzelnen Menschen subsu¬ 
miert werden können, sondern Typenbegriffe, denen sie 
mehr oder weniger entsprechen. Die Verwechslung der gat¬ 
tungsmäßigen mit der typologischen Auffassung ist das Zei- 


38 



chen des Denkens in Kollektiven: die Deutschen, die Eng¬ 
länder, die Norweger, die Juden - und beliebig weiter: die 
Friesen, die Bayern - oder: die Männer, die Frauen, die 
Jugend, das Alter. Daß durch die typologische Auffassung 
etwas getroffen wird, darf nicht zu der Meinung verführen, 
jedes Individuum erfaßt zu haben, wenn man es als durch 
jene allgemeine Charakteristik getroffen betrachtet. Das ist 
eine Denkform, die sich durch die Jahrhunderte zieht als 
ein Mittel des Hasses der Völker und Menschengruppen 
untereinander. Diese den meisten leider natürliche und 
selbstverständliche Denkform haben die Nationalsoziali¬ 
sten in der bösesten Weise angewendet und durch ihre Pro¬ 
paganda den Köpfen eingehämmert. Es war, als gäbe es 
keine Menschen mehr, sondern nur noch jene Kollektive. 

Ein Volk als Ganzes gibt es nicht. Alle Abgrenzungen, die 
wir vornehmen, um es zu bestimmen, werden durch Tat¬ 
bestände überschritten. Die Sprache, die Staatsbürger¬ 
schaft, die Kultur, die gemeinsamen Schicksale - alles die¬ 
ses koinzidiert nicht, sondern überschneidet sich. Volk und 
Staat fallen nicht zusammen, auch nicht Sprache und ge¬ 
meinsame Schicksale und Kultur. 

Ein Volk kann nicht zu einem Individuum gemacht wer¬ 
den. Ein Volk kann nicht heroisch untergehen, nicht Ver¬ 
brecher sein, nicht sittlich oder unsittlich handeln, sondern 
immer nur die einzelnen aus ihm. Ein Volk als Ganzes kann 
nicht schuldig und nicht unschuldig sein, weder im krimi¬ 
nellen, noch im politischen (hier haften nur die Bürger eines 
Staates), noch im moralischen Sinn. 

Die kategoriale Beurteilung als Volk ist immer eine Un¬ 
gerechtigkeit; sie setzt voraus eine falsche Substantiali- 
sierung, - sie hat eine Entwürdigung des Menschen als ein¬ 
zelnen zur Folge. 

Die Weltmeinung aber, die einem Volke die Kollektiv¬ 
schuld gibt, ist eine Tatsache von derselben Art, wie die, 
daß in Jahrtausenden gedacht und gesagt wurde: die Juden 
sind schuld, daß Jesus gekreuzigt wurde. Wer sind die Ju¬ 
den? eine bestimmte Gruppe politisch und religiös eifern¬ 
der Menschen, die unter den Juden damals eine gewisse 
Macht hatten, welche in Kooperation mit der römischen 
Besatzung zur Hinrichtung Jesu führte. 

Das Übermächtige einer solchen zur Selbstverständlich- 


39 



keit werdenden Meinung, auch bei denkenden Menschen, 
ist so erstaunlich, weil der Irrtum so einfach und offenbar 
ist. Man steht wie vor einer Wand, als ob kein Grund, keine 
Tatsache mehr gehört werde, oder, wenn gehört, so doch 
sofort wiedervergessen würde, ohne zur Geltung zu kommen. 

Kollektivschuld eines Volkes oder einer Gruppe innerhalb 
der Völker also kann es - außer der politischen Haftung - 
nicht geben, weder als verbrecherische, noch als morali¬ 
sche, noch als metaphysische Schuld. Ein Kollektiv für 
schuldig zu erklären, das ist ein Irrtum, der der Bequem¬ 
lichkeit und dem Hochmut durchschnittlichen, unkriti¬ 
schen Denkens nahe liegt. 

c) Zu Anklage und Vorwurf muß ein Recht sein. Wer hat 
das Recht zu richten? Jeder Urteilende darf der Frage ausge¬ 
setzt werden, welche Vollmacht er habe, zu welchem Zweck 
und aus welchem Motive er urteile, in welcher Lage er und 
der Beurteilte einander gegenüberstehen. 

Niemand braucht in moralischer und metaphysischer 
Schuld einen Richterstuhl in der Welt anzuerkennen. Was 
vor liebenden Menschen in nächster Verbundenheit mög¬ 
lich ist, ist nicht in Distanz kalter Analyse erlaubt. Was vor 
Gott gilt, gilt darum nicht auch vor Menschen. Denn Gott 
hat keine ihn vertretende Instanz auf Erden, weder in Äm¬ 
tern der Kirchen, noch in auswärtigen Ämtern der Staaten, 
noch in einer durch die Presse kundgegebenen öffentlichen 
Meinung der Welt. 

Wenn in der Lage der Kriegsentscheidung geurteilt wird, 
so hat der Sieger in bezug auf das Urteil über die politische 
Haftung das absolute Vorrecht: er hat sein Leben einge¬ 
setzt und die Entscheidung ist für ihn gefallen. Aber man 
fragt: »Darf ein Neutraler überhaupt vor der Öffentlichkeit 
urteilen, nachdem er im Kampfe fehlte, sein Dasein und 
sein Gewissen nicht in der Hauptsache einsetzte?« (aus 
einem Briefe). 

Wenn unter Schicksalsgefährten, heute unter Deutschen, 
von moralischer und metaphysischer Schuld in bezug auf 
den einzelnen Menschen gesprochen wird, so ist das Recht 
zum Urteil spürbar in der Haltung und Stimmung des Ur¬ 
teilenden: ob er von Schuld spricht, die er selber mitträgt 
oder nicht, ob er also von innen oder von außen, als Selbst- 
erheller oder als Ankläger, damit als Nahverbundener zur 


40 



Orientierung für mögliche Selbsterhellung der anderen oder 
als Fremder im bloßen Angriff, ob er als Freund oder als 
Feind spricht. Immer nur im ersten Falle hat er ein zweifel¬ 
loses, im zweiten Falle ein fragwürdiges, jedenfalls durch 
das Maß seiner Liebe beschränktes Recht. 

Wird aber von politischer Haftung und krimineller Schuld 
gesprochen, so hat unter den Mitbürgern jeder das Recht, 
Tatsachen zu erörtern und ihre Beurteilung am Maßstab 
klarer, begrifflicher Bestimmungen zu diskutieren. Die po¬ 
litische Haftung stuft sich ab nach dem Grade der Anteil¬ 
nahme am nunmehr grundsätzlich verneinten Regime und 
wird bestimmt durch Entscheidungen des Siegers, denen 
jeder, der in der Katastrophe am Leben bleiben wollte, 
darum weil er lebt, sinngemäß sich unterwerfen muß. 

§ 5. VERTEIDIGUNG 

Wo Anklage erhoben wird, wird der Angeklagte sich zu 
Gehör bringen dürfen. Wo an Recht appelliert wird, gibt 
es Verteidigung. Wo Gewalt angewandt wird, wird der Ver¬ 
gewaltigte sich wehren, wenn er kann. 

Wenn der restlos Besiegte sich nicht wehren kann, so 
bleibt ihm - sofern er am Leben bleiben will - nichts als 
die Folgen zu tragen, zu übernehmen und anzuerkennen. 

Wo aber der Sieger begründet, beurteilt, da kann zwar 
keinerlei Gewalt, sondern nur in der Ohnmacht der Geist 
antworten, sofern dazu Raum verstattet wird. Verteidigung 
ist möglich, wo der Mensch sprechen darf. Der Sieger be¬ 
grenzt seine Gewalt, sobald er sein Handeln auf die Ebene 
von Recht bringt. Diese Verteidigung hat folgende Möglich¬ 
keiten: 

1. Sie kann auf Unterscheidung dringen. Durch Unter¬ 
scheidung geschieht Bestimmung und teilweise Entlastung. 
Unterscheidung hebt das Totalitäre auf, der Vorwurf wird 
begrenzt. 

Vermischung führt zur Unklarheit und Unklarheit hat 
wieder reale Folgen, sei es nützlicher oder schädlicher, je¬ 
denfalls ungerechter Art. Verteidigung durch Unterschei¬ 
dung fördert die Gerechtigkeit. 

2. Die Verteidigung kann Tatbestände beibringen, be¬ 
tonen und vergleichen. 

3. Die Verteidigung kann appellieren an Naturrecht, an 


41 



Menschenrechte, an Völkerrecht. Solche Verteidigung steht 
unter Einschränkungen: 

a) Ein Staat, der grundsätzlich Naturrecht und Men¬ 
schenrechte verletzt hat, von Anfang an im eigenen Lande, 
und der dann im Krieg nach außen die Menschenrechte und 
das Völkerrecht zerstörte, hat nicht zu seinen Gunsten den 
Anspruch auf Anerkennung dessen, was er selbst nicht an¬ 
erkannt hat. 

b) Recht hat man tatsächlich, wenn man zugleich Macht 
hat, für das Recht zu kämpfen. Wo völlige Ohnmacht ist, 
besteht nur die Möglichkeit, geistig das ideale Recht zu 
beschwören. 

c) Wo Naturrecht und Menschenrechte anerkannt wer¬ 
den, da nur durch den freien Willensakt der Mächtigen, der 
Sieger. Er ist ein Akt aus deren Einsicht und Ideal heraus, 
- eine Gnade gegen den Besiegten in der Form der Ge¬ 
währung von Recht. 

4. Die Verteidigung kann aufzeigen, wo die Anklage nicht 
mehr wahrhaftig sich vollzieht, sondern im Dienst anderer, 
etwa politischer oder wirtschaftlicher Zwecke als Waffe be¬ 
nutzt wird - durch Vermischung der Schuldbegriffe - durch 
Erregung einer falschen Meinung -, um sich Zustimmung und 
zugleich das gute Gewissen zu schaffen für eigene Handlun¬ 
gen. Diese werden als Recht begründet, statt daß sie klare 
Siegerakte in der Lage des vae victis bleiben. Das Böse aber 
ist böse, auch wenn es als Vergeltung geübt wird. 

Moralische und metaphysische Vorwürfe sind als Mittel 
für politische Willenszwecke schlechthin zu verwerfen. 

5. Verteidigung durch Ablehnung des Richters - entweder 
weil er mit Gründen für befangen erklärt werden kann - 
oder weil die Sache von der Art ist, daß sie einem mensch¬ 
lichen Richter nicht untersteht. 

Strafe und Haftung - Wiedergutmachung - sind anzu¬ 
erkennen, nicht aber die Forderung von Reue und Wieder¬ 
geburt, die nur von innen kommen können. Gegen solche 
Forderungen bleibt nur Abwehr durch Schweigen. Es kommt 
darauf an, sich nicht beirren zu lassen in der tatsächlichen 
Notwendigkeit dieser inneren Umkehrung, wenn sie gleich¬ 
sam als Leistung von außen fälschlich verlangt wird. 

Es ist zweierlei: Schuldbewußtsein und Anerkennung 
einer Instanz in der Welt als Richter. Der Sieger ist an sich 


42 



noch nicht Richter. Entweder vollzieht er selber eine Ver¬ 
wandlung der Haltung des Kampfes und gewinnt in der Tat 
Recht statt bloßer Macht, und zwar in Begrenzung auf kri¬ 
minelle Schuld und politische Haftung, - oder er nimmt 
sich falsche Berechtigung zu Handlungen, die selber wieder 
neue Schuld in sich schließen. 

6 . Verteidigung bedient sich der Gegenanklage. Durch 
Hinweis auf die Handlungen der anderen, die Mitursache 
für das Entstehen des Unheils waren; - durch Hinweis auf 
gleiche Handlungen der anderen, die beim Besiegten als 
Verbrechen gelten und auch sind; - durch Hinweis auf all¬ 
gemeine Weltzusammenhänge, die eine gemeinsame Schuld 
bedeuten. 


43 



B. DIE DEUTSCHEN FRAGEN 


Die Schuldfrage hat ihre Wucht für jedermann bekom¬ 
men durch die Anklage seitens der Sieger und der gesamten 
Welt gegen uns Deutsche. Als im Sommer 1945 die Plakate 
in den Städten und Dörfern hingen mit den Bildern und 
Berichten aus Belsen und dem entscheidenden Satz: Das 
ist eure Schuld!, da bemächtigte sich eine Unruhe der Ge¬ 
wissen, da erfaßte ein Entsetzen viele, die das in der Tat 
nicht gewußt hatten, und da bäumte sich etwas auf: wer 
klagt mich da an? Keine Unterschrift, keine Behörde, das 
Plakat kam wie aus dem leeren Raum. Es ist allgemein 
menschlich, daß der Beschuldigte, ob er nun mit Recht oder 
Unrecht beschuldigt wird, sich zu verteidigen sucht. 

Die Schuldfrage in politischen Konflikten ist uralt. Sie 
spielte eine große Rolle, z. B. in den Argumentationen zwi¬ 
schen Napoleon und England, zwischen Preußen und Öster¬ 
reich. Vielleicht zum erstenmal wurde Politik mit dem An¬ 
spruch auf das eigene moralische Recht und mit moralischer 
Verurteilung der Gegner von den Römern getrieben. Da¬ 
gegen steht die Unbefangenheit der objektiven Griechen 
einerseits und die Selbstanklage der alten Juden vor Gott 
andererseits. 

Daß jederzeit das Schuldigerklären seitens der Sieger¬ 
mächte ein Mittel der Politik und dann in den Motiven un¬ 
rein wurde, ist selber eine durch die Geschichte hindurch¬ 
gehende Schuld. 

Nach dem ersten Weltkrieg war die Kriegsschuld eine 
Frage, die im Versailler Vertrag zuungunsten Deutschlands 
entschieden wurde. Historiker aller Länder haben später 
eine einseitige alleinige Kriegsschuld nicht festgehalten. 
Man ist damals von allen Seiten in den Krieg »hineinge¬ 
schliddert«, wie Lloyd George sagte. 

Heute ist es nun gar nicht so wie damals. Die Schuldfrage 
hat einen umfassenderen Sinn gewonnen. Sie klingt ganz 
anders als früher. 

Die Kriegsschuldfrage, die nach 1918 im Vordergründe 
stand, ist diesmal klar. Der Krieg ist durch Hitlerdeutsch¬ 
land entfesselt worden. Deutschland hat die Kriegsschuld 
durch sein Regime, das in dem von ihm gewählten Augen¬ 
blick angefangen hat, während alle andern nicht wollten. 


44 



»Das ist eure Schuld« besagt aber heute viel mehr als 
Kriegsschuld. 

Jenes Plakat ist schon fast vergessen. Was dort von uns 
erfahren wurde, ist jedoch geblieben: Erstens die Realität 
einer Weltmeinung, die uns als gesamtes Volk verurteilt, - 
und zweitens die eigene Betroffenheit. 

Die Weltmeinung ist für uns wichtig. Es sind Menschen, 
die so von uns denken, und das kann uns nicht gleichgültig 
sein. Die Schuld wird weiter ein Mittel der Politik. Weil wir 
als schuldig gelten, haben wir - so ist die Meinung - alles 
Unheil, das über uns gekommen ist und noch kommen wird, 
verdient. Hier liegt eine Rechtfertigung für die Politiker, 
die Deutschland zerstückeln, seine Aufbaumöglichkeiten 
einschränken, es ohne Frieden in einem Zustand zwischen 
Leben und Sterben lassen. Es ist eine politische Frage die 
wir nicht zu entscheiden haben und zu deren Entscheidung 
wir kaum etwas Wesentliches - auch nicht durch unser ta¬ 
dellosestes Verhalten - beitragen könnten. Es ist die Frage, 
ob es politisch sinnvoll, zweckmäßig, gefahrlos, gerecht sei, 
ein ganzes Volk zum Pariavolk zu machen, es hinabzu¬ 
drücken unter den Rang der anderen Völker, es, nachdem 
es selber seine Würde preisgegeben hatte, weiter zu ent¬ 
würdigen. Über diese Frage sprechen wir hier nicht, auch 
nicht über die politische Frage, ob und in welchem Sinne es 
notwendig und zweckmäßig ist, Schuldbekenntnisse abzu¬ 
legen. Es kann sein, daß es bei dem Verdikt des deutschen 
Volkes bleibt. Es würde für uns die ungeheuersten Folgen 
haben. Wir hoffen noch, daß der Entschluß der Staats¬ 
männer und die Meinung der Völker sich irgendwann revi¬ 
dieren. Aber wir haben nicht anzuklagen, sondern hinzu¬ 
nehmen. Unsere völlige Ohnmacht, in die uns der National¬ 
sozialismus geführt hat, und aus der es in der heute erreich¬ 
ten technisch bedingten Weltsituation keinen Ausweg gibt, 
zwingt uns dazu. 

Für uns aber noch viel wichtiger ist, wie wir selbst uns 
durchleuchten, beurteilen und reinigen. Jene Anklagen von 
außen sind nicht mehr unsere Sache. Die Anklagen von 
innen, die unüberhörbar in deutschen Seelen seit 12 Jahren 
mehr oder weniger deutlich wenigstens augenblicksweise 
sprechen, sind dagegen Ursprung unseres jetzt noch mög¬ 
lichen Selbstbewußtseins durch die Weise, wie wir unter 


45 



ihnen uns durch uns selbst verwandeln, ob wir alt oder jung 
sind. Wir müssen die deutsche Schuldfrage klären. Das geht 
uns selbst an. Das geschieht unabhängig von den Vorwür¬ 
fen, die uns von außen kommen, so sehr wir diese hören, als 
Fragen und als Spiegel benutzen mögen. 

Jener Satz: »Das ist eure Schuld« kann bedeuten: 

Ihr haftet für die Taten des Regimes, das ihr geduldet 
habt - hier handelt es sich um unsere politische Schuld. 

Es ist eure Schuld, daß ihr darüber hinaus dies Regime 
unterstützt und mitgemacht habt - darin liegt unsere mo¬ 
ralische Schuld. 

Es ist eure Schuld, daß ihr untätig dabei standet, wenn 
die Verbrechen getan wurden - da deutet sich eine meta¬ 
physische Schuld an. 

Diese drei Sätze halte ich für wahr, obgleich nur der erste 
über die politische Haftung geradezu auszusprechen und 
ganz richtig ist, während der zweite und dritte über mora¬ 
lische und metaphysische Schuld in juristischer Gestalt als 
lieblose Aussagen unwahr werden. 

Weiter kann »Das ist eure Schuld« bedeuten: 

Ihr seid Teilnehmer an jenen Verbrechen, daher selbst 
Verbrecher. - Das ist für die überwiegende Mehrzahl der 
Deutschen offenbar falsch. 

Schließlich kann es bedeuten: Ihr seid als Volk minder¬ 
wertig, würdelos, verbrecherisch, ein Auswurf der Mensch¬ 
heit, anders als alle anderen Völker. - Das ist das Denken 
und Werten in Kollektiven, das mit seiner Subsumtion je¬ 
des einzelnen unter dies Allgemeine radikal falsch und sel¬ 
ber unmenschlich ist, ob es in gutem oder bösem Sinne sich 
vollzieht. 

Nach diesen kurzen Vorwegnahmen sehen wir nun näher 
zu. 


46 



I. Die Differenzierung deutscher Schuld 
§ 1 . DIE VERBRECHEN 

Im Unterschied vom ersten Weltkrieg, nach dem wir 
spezifische Verbrechen, die nur die eine Seite begangen 
hätte, deutscherseits nicht anzuerkennen brauchten (worin 
die wissenschaftliche Geschichtsforschung auch der Gegner 
Deutschlands die gleiche Einsicht gewann), sind heute die 
Verbrechen der Naziregierung klar, die sie vor dem Krieg 
in Deutschland, im Krieg überall beging. 

Im Unterschied vom ersten Weltkrieg, nach dem die 
Kriegsschuldfrage von Historikern aller Völker nicht zu¬ 
ungunsten einer Seite beantwortet wurde, ist dieser Krieg 
von Hitlerdeutschland angefangen worden. 

Im Unterschied vom ersten Weltkrieg ist schließlich die¬ 
ser Krieg wirklich ein Weltkrieg geworden. Er hat die Welt 
in einer anderen Situation und einem anderen Wissen ge¬ 
troffen. Sein Sinn ist gegenüber früheren Kriegen in eine 
andere Dimension geraten. 

Und heute haben wir etwas in der Weltgeschichte völlig 
Neues. Die Sieger konstituieren ein Gericht. Der Nürnberger 
Prozeß betrifft Verbrechen. 

Das bringt zunächst eine klare Begrenzung in zwei Rich¬ 
tungen: 

1. Nicht das deutsche Volk, sondern einzelne als Ver¬ 
brecher angeklagte Deutsche - aber grundsätzlich alle Füh¬ 
rer des Naziregimes - stehen hier vor Gericht. Diese Be¬ 
grenzung hat der amerikanische Anklagevertreter von vorn¬ 
herein vollzogen. Jackson sagte in seiner grundlegenden 
Rede: »Wir möchten klarstellen, daß wir nicht beabsich¬ 
tigen, das ganze deutsche Volk zu beschuldigen.« 

2. Nicht im Ganzen werden die Verdächtigen angeklagt, 
sondern wegen bestimmter Verbrechen. Diese sind im Sta¬ 
tut des Internationalen Militärgerichtshofes ausdrücklich 
definiert: 

1) Verbrechen gegen den Frieden: Planung, Vorbereitung, Ein¬ 
leitung oder Durchführung eines Angriffskrieges oder eines Krieges 
unter Verletzung internationaler Verträge ... 

2) Kriegsverbrechen: Verletzungen der Kriegsrechte, z.B. Morde, 
Mißhandlungen, Deportationen zur Zwangsarbeit von Angehörigen 
der Zivilbevölkerung des besetzten Gebiets, - Mord oder Mißhand¬ 
lung von Kriegsgefangenen, - Plünderung öffentlichen oder privaten 
Eigentums, die mutwillige Zerstörung von Städten oder Dörfern oder 


47 



jede durch militärische Notwendigkeit nicht gerechtfertigte Verwü¬ 
stung. 

3) Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Mord, Ausrottung, Ver¬ 
sklavung, Deportation, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung, 
Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, be¬ 
gangen in Ausführung eines Verbrechens, für das der Gerichtshof 
zuständig ist. 

Weiter wird der Umkreis der Verantwortung bestimmt. Anfüh¬ 
rer, Organisationen, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf 
oder der Ausführung eines gemeinsamen Plans oder einer Verab¬ 
redung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilge¬ 
nommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von 
irgend einer Person in Ausführung eines solchen Plans begangen 
worden sind. 

Die Anklage richtet sich daher nicht nur gegen Einzelpersonen, 
sondern auch gegen Organisationen, die als solche als verbrecherisch 
zu beurteilen seien: Reichskabinett. - Das Korps der politischen 
Leiter der NSDAP - SS - SD - Gestapo - SA - Der Generalstab. - 
Das Oberkommando der Deutschen Wehrmacht. - 


Wir Deutsche sind bei diesem Prozeß Zuhörer. Nicht wir 
haben ihn bewirkt, nicht wir führen ihn, obgleich die Ange¬ 
klagten Menschen sind, die uns ins Unheil gebracht haben. 
»Wahrlich, die Deutschen - nicht weniger als die Welt 
draußen - haben mit den Angeklagten eine Rechnung zu be¬ 
gleichen« sagt Jackson. 

Mancher Deutsche fühlt sich gekränkt durch diesen Pro¬ 
zeß. Dieses Gefühl ist verständlich. Es hat denselben Grund, 
wie von der anderen Seite die Beschuldigung der gesamten 
deutschen Bevölkerung für das Hitlerregime und seine Ta¬ 
ten. Jeder Staatsbürger ist in dem, was der eigene Staat 
tut und leidet, mithaftbar und mitgetroffen. Ein Verbrecher¬ 
staat fällt dem ganzen Volk zur Last. In der Behandlung 
der eigenen Staatsführer, selbst wenn sie Verbrecher sind, 
fühlt sich daher der Staatsbürger mit behandelt. In ihnen 
wird das Volk mit verurteilt. Daher wird die Kränkung und 
Würdelosigkeit in dem, was die Staatsführer erfahren, vom 
Volke als eigene Kränkung und Würdelosigkeit empfunden. 
Und daher die instinktive, zunächst noch gedankenlose Ab¬ 
lehnung des Prozesses. 

In der Tat ist hier eine schmerzvolle politische Haftung 
von uns zu vollziehen. Wir müssen die Würdelosigkeit er¬ 
fahren, sofern die politische Haftung sie fordert. Wir er¬ 
fahren darin symbolisch unsere völlige politische Ohnmacht 
und unsere Ausschaltung als politischer Faktor. 


48 



Nun aber liegt alles daran, wie wir unsere instinktive Ge- 
troffenheit auffassen, auslegen, aneignen und umsetzen. 

Es gibt die Möglichkeit, bedingungslos die Kränkung zu 
verwerfen. Dann werden Gründe gesucht, aus denen der ge¬ 
samte Prozeß in seinem Recht, seiner Wahrhaftigkeit, sei¬ 
nem Ziel bestritten wird. 

1. Es werden allgemeine Betrachtungen angestellt: Kriege 
gehen durch die gesamte Geschichte und Kriege stehen be¬ 
vor. Es ist doch nicht ein Volk am Kriege Schuld. Die Na¬ 
tur des Menschen, seine universelle Schuldhaftigkeit, führt 
zu den Kriegen. Es ist eine Oberflächlichkeit des Gewis¬ 
sens, das sich selbst für schuldfrei erklärt. Es ist eine Selbst¬ 
gerechtigkeit, die durch ihr gegenwärtiges Verhalten gerade 
kommende Kriege fördert. 

Dagegen ist zu sagen: Dieses Mal ist nicht zu bezweifeln, 
daß Deutschland den Krieg planmäßig vorbereitet und ohne 
Provokation von anderer Seite begonnen hat. Es ist ganz 
anders als 1914. - Deutschland wird nicht die Schuld am 
Kriege, sondern an diesem Kriege gegeben. Und dieser 
Krieg selber ist etwas Neues, Anderes in einer weltgeschicht¬ 
lichen Lage, die zum erstenmal so da ist. 

Dieser Vorwurf gegen den Nürnberger Prozeß wird anders 
etwa so ausgesprochen: es ist etwas Unlösbares im mensch¬ 
lichen Dasein, daß immer wieder zur Entscheidung durch 
Gewalt drängt, was zum Austrag gebracht werden muß 
»durch Anrufen des Himmels«. Der Soldat fühlt ritterlich, 
und er darf auch als Besiegter noch beleidigt sein, wenn ihm 
unritterlich begegnet werde. 

Dagegen ist zu sagen; Deutschland hat zahlreiche Hand¬ 
lungen begangen, die (außerhalb jeder Ritterlichkeit und 
gegen das Völkerrecht) zur Ausrottung von Bevölkerungen 
und anderen Unmenschlichkeiten führten. Hitlers Handeln 
war von vornherein gegen jede Möglichkeit einer Versöh¬ 
nung gerichtet. Es gab nur Sieg oder Untergang. Jetzt sind 
die Konsequenzen des Untergangs da. Jede Forderung an 
Ritterlichkeit ist - auch wo sehr zahlreiche einzelne Sol¬ 
daten und ganze Truppenteile schuldfrei sind und ihrerseits 
sich stets ritterlich verhalten haben - hinfällig, wo die Wehr¬ 
macht als Organisation Hitlers verbrecherische Befehle aus¬ 
zuführen übernommen hat. Wo Ritterlichkeit und Großmut 
verraten wurden, können sie nachträglich nicht wieder zu 


49 



eigenen Gunsten in Anspruch genommen werden. Dieser 
Krieg entstand nicht aus der Ausweglosigkeit zwischen 
Gleichgearteten, die ritterlich zum Kampfe schreiten, son¬ 
dern war in Ursprung und Durchführung verbrecherische 
Tücke und bedenkenlose Totalität des Vernichtungswillens. 

Noch im Kriege gibt es die Möglichkeit von Hemmungen. 
Der Satz Kants: im Kriege dürfen keine Handlungen ge¬ 
schehen, die eine spätere Versöhnung schlechthin unmög¬ 
lich machen, ist zuerst von Hitlerdeutschland grundsätzlich 
verworfen worden. Infolgedessen ist die Gewalt, seit Ur¬ 
zeiten ihrem Wesen nach gleich, nun in dem Ausmaß ihrer 
Vernichtungsmöglichkeiten durch die Technik bestimmt, 
uneingeschränkt da. In der heutigen Weltsituation den 
Krieg angefangen zu haben, das ist das Ungeheure. 

2. Man sagt: Der Prozeß ist für alle Deutschen eine na¬ 
tionale Schmach. Wären wenigstens Deutsche im Gericht, 
so würde doch der Deutsche von Deutschen gerichtet. 

Dagegen ist zu erwidern: Die nationale Schmach liegt 
nicht im Gericht, sondern in dem, was zu ihm geführt hat, in 
der Tatsache dieses Regimes und seiner Handlungen. Das Be¬ 
wußtsein der nationalen Schmach ist für den Deutschen un¬ 
umgänglich. Es geht in falsche Richtung, wenn es gegen 
den Prozeß statt gegen dessen Ursprung sich wendet. 

Ferner: Die Ernennung etwa eines deutschen Gerichts oder 
von Deutschen zu Beisitzern seitens der Sieger würde gar 
nichts ändern. Sie wären nicht kraft deutscher Selbstbe¬ 
freiung, sondern durch Gnade des Siegers im Gericht. Die 
nationale Schmach bliebe die gleiche. Der Prozeß ist das 
Ergebnis der Tatsache, daß nicht wir uns von dem verbre¬ 
cherischen Regime befreit haben, sondern daß wir durch 
die Alliierten von ihm befreit worden sind. 

3. Ein Einwand ist: Wie kann man im Bereich politi¬ 
scher Souveränität von Verbrechen reden? Würde man das 
zugeben, so kann der Sieger den Besiegten zum Verbrecher 
erklären - dann hört der Sinn und das Geheimnis der Ob¬ 
rigkeit auf, die von Gott kommt. Männer, denen ein Volk 
gehorcht hat - und unter ihnen wieder herausgehoben früher 
der Kaiser Wilhelm II., jetzt »der Führer« -, gelten als 
sakrosankt. 

Dagegen ist zu sagen: Es handelt sich um eine Denkge¬ 
wohnheit aus der Überlieferung staatlichen Lebens in Europa, 


50 



die am längsten sich in Deutschland gehalten hat. Aber 
heute ist der Heiligenschein um Staatshäupter verschwun¬ 
den. Sie sind Menschen und halten für ihr Tun. Seitdem 
europäische Völker ihren Monarchen den Prozeß gemacht 
und sie enthauptet haben, ist die Aufgabe der Völker, ihre 
Führung unter Kontrolle zu halten. Staatsakte sind zugleich 
Personalakte. Menschen als einzelne verantworten sie und 
halfen für sie. 

4. Juristisch wird folgender Einwand gemacht: Verbre¬ 
chen kann es nur geben am Maßstab von Gesetzen. Die Ver¬ 
letzung dieser Gesetze ist das Verbrechen. Das Verbrechen 
muß bestimmt definiert und als Tatbestand eindeutig fest¬ 
stellbar sein. Insbesondere: nulla poena sine lege, - d. h. es 
kann ein Urteil nur gefällt werden nach einem Gesetz, das 
vor Begehen der Tat bestand. In Nürnberg aber wird mit 
rückwirkender Kraft nach Gesetzen geurteilt, die die Sieger 
jetzt aufgestellt haben. 

Dagegen ist zu sagen: Im Sinne der Menschlichkeit, der 
Menschenrechte und des Naturrechts, und im Sinne der 
Ideen der Freiheit und Demokratie des Abendlandes sind 
Gesetze schon da, an denen gemessen Verbrechen bestimm¬ 
bar sind. 

Außerdem gibt es Verträge, die, wenn sie freiwillig von 
beiden Seiten unterzeichnet sind, solches übergeordnete 
Recht setzen, das im Falle des Vertragsbruches zum Ma߬ 
stab werden kann. 

Wo aber ist die Instanz? Im Frieden einer Staatsord¬ 
nung sind es die Gerichte. Nach einem Krieg kann es nur ein 
Gericht des Siegers sein. 

5. Daher der weitere Einwand: Gewalt des Siegers ist 
nicht Recht. Der Erfolg ist nicht die Instanz für Recht und 
Wahrheit. Ein Tribunal, das objektiv die Kriegsschuld und 
die Kriegsverbrechen untersuchen und verurteilen könnte, 
ist nicht möglich. Immer ist solches Gericht Partei. Auch 
ein Gericht aus Neutralen wäre Partei, denn die Neutralen 
sind ohnmächtig und faktisch in Gefolgschaft der Sieger. 
Nur ein Gericht, hinter dem eine Macht stände, welche die 
Entscheidung beiden streitenden Parteien auch mit Gewalt 
aufzwingen könnte, könnte frei urteilen. 

Der Einwand der Scheinhaftigkeit dieses Rechts fährt 
fort: Nach jedem Krieg wird die Schuld dem Unterlegenen 


51 



zugeschoben. Er wird zur Anerkennung seiner Schuld ge¬ 
zwungen. Die dem Krieg nachfolgende wirtschaftliche Aus¬ 
beutung wird als Wiedergutmachung einer Schuld verschlei¬ 
ert. Ausplünderung wird zum Rechtsakt umgefälscht. Wenn 
kein freies Recht, dann lieber klare Gewalt. Das wäre ehr¬ 
lich, und es wäre leichter zu ertragen. Es gibt nur die Macht 
des Siegers. An sich ist der Vorwurf des Verbrechens jeder¬ 
zeit gegenseitig möglich, - durchführen kann den Vorwurf 
nur der Sieger -, er tut es rücksichtslos ausschließlich nach 
den Maßstäben des eigenen Interesses. Alles andere ist Ver¬ 
kleidung dessen, was in der Tat die Gewalt und Willkür dessen 
ist, der die Macht dazu hat. 

Die Scheinhaftigkeit des Gerichts zeigt sich schließlich 
daran, daß die als verbrecherisch erklärten Handlungen nur 
dann vor Gericht gestellt werden, wenn sie seitens eines be¬ 
siegten Staates begangen sind. Dieselben Handlungen seitens 
souveräner oder siegender Staaten werden mit Stillschwei¬ 
gen übergangen, nicht erörtert, geschweige denn bestraft. 

Dagegen ist zu sagen: Macht und Gewalt sind eine in der 
Tat entscheidende Realität in der Welt der Menschen. Aber 
nicht die einzige. Die Verabsolutierung dieser Realität hebt 
alle verläßliche Verbindung zwischen Menschen auf. Solange 
sie gilt, ist kein Vertrag möglich. Wie es Hitler in der Tat 
ausgesprochen hat: Verträge gelten nur solange, als sie dem 
eigenen Interesse entsprechen. Und er hat danach gehan¬ 
delt. Aber dagegen steht der Wille, der trotz der Anerken¬ 
nung der Realität der Macht und der Wirksamkeit jener 
nihilistischen Auffassung sie für etwas hält, das nicht sein 
soll und das daher mit allen Kräften verändert werden muß. 

Denn in menschlichen Dingen bedeutet Realität noch 
nicht Wahrheit. Dieser Realität ist vielmehr andere Reali¬ 
tät entgegenzusetzen. Und ob diese da ist, das liegt am 
Willen des Menschen. Jeder muß in seiner Freiheit wissen, 
wo er steht, und was er will. 

Aus diesem Horizont ist zu sagen: Der Prozeß als ein 
neuer Versuch, Ordnung in der Welt zu fördern, verliert 
seinen Sinn nicht, wenn er noch nicht imstande ist, sich 
auf eine gesetzliche Weltordnung zu stützen, sondern wenn 
er heute noch notwendig in politischen Zusammenhängen 
stehen bleibt. Er findet noch nicht statt wie ein Gerichts¬ 
prozeß innerhalb einer geschlossenen Staatsordnung. 


52 



Daher hat Jackson offen gesagt, »daß der Prozeß, wenn 
der Verteidigung gestattet würde, von der sehr umgrenzten 
Beschuldigung der Anklageschrift abzuschweifen, in die 
Länge gezogen und das Gericht in unlösbare politische Streit¬ 
fragen verwickelt würde«. 

Das heißt auch, daß etwa die Verteidigung nicht die in 
die geschichtlichen Voraussetzungen eindringende Frage 
nach der Schuld am Kriege, sondern nur die Frage zu be¬ 
handeln hat, wer diesen Krieg angefangen hat. Ferner be¬ 
stände nicht das Recht, etwa andere Fälle ähnlicher Ver¬ 
brechen heranzuziehen oder zu beurteilen. - Politische 
Notwendigkeiten setzen den Erörterungen eine Grenze. 
Daraus folgt aber nicht, daß damit alles unwahrhaftig wür¬ 
de. Im Gegenteil, die Schwierigkeiten, die Einwände sind 
offen, wenn auch kurz, ausgesprochen. 

Die Grundsituation, daß der Erfolg des Kampfes, nicht 
das Gesetz allein, der beherrschende Ausgangspunkt ist, 
ist nicht zu leugnen. Im Großen ist es wie im Kleinen, was 
etwa bei militärischen Vergehen ironisch so ausgesprochen 
wurde: man werde bestraft nicht wegen des Gesetzes, son¬ 
dern weil man sich habe fassen lassen. Aber diese Grund¬ 
situation bedeutet nicht, daß nicht nach dem Erfolg der 
Mensch kraft seiner Freiheit in der Lage wäre, seine Gewalt 
überzuführen in eine Verwirklichung von Recht. Und auch 
wenn dies nicht völlig geschieht, auch wenn nur in einem 
gewissen Umfang Recht entsteht, so ist doch damit schon 
viel erreicht auf dem Wege zur Weltordnung. Die Mäßigung 
als solche schafft einen Raum von Besinnen und Prüfen, 
von Klarheit, und dadurch auch um so entschiedener das 
Bewußtsein von der bleibenden Bedeutung der Gewalt als 
solcher. 

Für uns Deutsche hat dieser Prozeß den Vorteil, daß er 
unterscheidet zwischen den bestimmten Verbrechen der 
Führer, und daß er gerade nicht kollektiv das Volk verur¬ 
teilt. 

Aber der Prozeß bedeutet viel mehr. Er soll zum ersten¬ 
mal und für alle Zukunft den Krieg zum Verbrechen erklä¬ 
ren und daraus die Konsequenz ziehen. Was mit dem Kel- 
logg-Pakt begann, soll zum erstenmal sich verwirklichen. 
Die Größe des Unternehmens ist so wenig zu bezweifeln 
wie der gute Wille vieler, die hier mitwirken. Das Unter- 


53 



nehmen kann phantastisch scheinen. Aber wenn uns klar 
wird, worum es sich handelt, so zittern wir um das, was ge¬ 
schieht. Ein Unterschied ist nur, ob wir nihilistisch trium¬ 
phierend voraussetzen, daß es ein Scheinprozeß sein müsse, 
oder ob wir brennend wünschen, es möchte gelingen. 

Es kommt darauf an, wie er vollzogen wird, wie seine 
inhaltliche Durchführung, wie sein Ergebnis, wie die Be¬ 
gründungen sein werden, wie sich das Verfahren zu einem 
Ganzen in der Rückerinnerung schließen wird. Es kommt 
darauf an, ob die Welt es als Wahrheit und Recht anerken¬ 
nen kann, was hier getan ist - ob auch die Besiegten sich 
nicht entbrechen können, zuzustimmen, - ob die Geschichte 
später Gerechtigkeit und Wahrheit darin sehen wird. 

Das aber entscheidet sich nicht allein in Nürnberg. We¬ 
sentlich ist, ob der Nürnberger Prozeß ein Glied in der Folge 
sinnvoll aufbauender politischer Handlungen wird, mögen 
diese auch noch oft durchkreuzt werden von Irrtum, Un¬ 
vernunft, Herzlosigkeit und Haß, - oder ob durch den Ma߬ 
stab, der hier über der Menschheit aufgestellt wird, am 
Ende die Mächte selber verworfen werden, die ihn jetzt er¬ 
richten. Die Mächte, die Nürnberg hinstellen, bezeugen da¬ 
mit, daß sie in Gemeinschaft die Weltregierung wollen, in¬ 
dem sie sich der Weltordnung unterwerfen. Sie bezeugen, 
daß sie die Verantwortung für die Menschheit als das Er¬ 
gebnis ihres Sieges wirklich übernehmen wollen und nicht 
bloß für ihre eigenen Staaten. Solch Zeugnis darf kein fal¬ 
sches Zeugnis sein. 

Entweder wird in der Welt ein Vertrauen bewirkt, daß 
in Nürnberg Recht geschehen und damit ein Grund gelegt 
sei, dann ist aus dem politischen Prozeß ein Rechtsprozeß 
geworden, ist Recht schöpferisch begründet und verwirk-, 
licht für eine neue, jetzt zu erbauende Welt, - oder es würde 
die Enttäuschung durch Unwahrhaftigkeit eine um so 
schlimmere, neue Kriege fördernde Weltstimmung wecken; 
Nürnberg würde statt zum Segen vielmehr zu einem Faktor 
des Verhängnisses werden; die Welt würde schließlich ur¬ 
teilen, der Prozeß sei ein Scheinprozeß und ein Schaupro¬ 
zeß gewesen. Das darf nicht sein. 

Zu allen Einwänden gegen den Prozeß ist daher zu sagen: 
Es handelt sich in Nürnberg um etwas wirklich Neues. Daß 
alles, was in den Einwänden gesagt wird, mögliche Gefahr 


54 



ist, ist nicht zu leugnen. Aber falsch sind erstens die Alter¬ 
nativen, mit denen Mängel, Fehler, Störungen im einzelnen 
gleich zur Verwerfung überhaupt führen, während es auf 
die Richtung des Handelns ankommt, auf die unbeirrbare 
Geduld tätiger Verantwortung der Mächte. Die Wider¬ 
sprüche im einzelnen sollen überwunden werden durch die 
Akte in Richtung auf die Weltordnung hin mitten in den 
Verwirrungen. Falsch ist zweitens die Stimmung der em¬ 
pörten Aggressivität, die von vornherein Nein sagt. 

Was in Nürnberg geschieht, mag es noch so vielen Ein¬ 
wänden ausgesetzt sein, ist ein schwacher, zweideutiger 
Vorbote der der Menschheit heute als notwendig fühlbar wer¬ 
denden Weltordnung. Das ist die ganz neue Situation: die 
Weltordnung steht zwar keineswegs unmittelbar bevor - 
vielmehr liegen vor ihrer Verwirklichung noch gewaltige 
Konflikte und unabsehbare Kriegsgefahren -, aber sie ist 
der denkenden Menschheit als möglich erschienen, am Hori¬ 
zont als kaum erkennbare Morgenröte aufgetaucht, während 
im Falle des Mißlingens der Ordnung die Selbstzerstörung 
der Menschheit als furchtbare Drohung vor Augen steht. 

Der Ohnmächtigste hat seinen einzigen Halt am Welt¬ 
ganzen. Vor dem Nichts greift er nach dem Ursprung und 
nach dem Allumfassenden. Daher könnte gerade dem Deut¬ 
schen der außerordentliche Sinn dieses Vorboten gegenwär¬ 
tig werden. 

Unser eigenes Heil in der Welt ist bedingt durch die Welt¬ 
ordnung, die in Nürnberg noch nicht konstituiert wird, auf 
die aber Nürnberg hindeutet. 

§ 2 . DIE POLITISCHE SCHULD 

Für Verbrechen trifft den Verbrecher die Strafe. Die Be¬ 
grenzung des Nürnberger Prozesses auf die Verbrecher ent¬ 
lastet das deutsche Volk. Aber keineswegs derart, daß es 
frei würde von jeder Schuld. Im Gegenteil. Unsere eigent¬ 
liche Schuld wird um so klarer in ihrem Wesen. 

Wir sind Staatsangehörige gewesen, als die Verbrechen 
begangen wurden von dem Regime, das sich deutsch nannte 
und Deutschland zu sein für sich in Anspruch nahm und dazu 
das Recht zu haben schien, weil es die Staatsmacht in Hän¬ 
den hatte und bis 1943 keine für es gefährliche Gegenwir¬ 
kung fand. 


55 



Die Zerstörung jeder anständigen, wahrhaftigen deutschen 
Staatlichkeit muß ihren Grund auch in Verhaltungsweisen 
der Mehrheit der deutschen Bevölkerung haben. Ein Volk 
haftet für seine Staatlichkeit. 

Angesichts der Verbrechen, die im Namen des deutschen 
Reiches verübt worden sind, wird jeder Deutsche mitverant¬ 
wortlich gemacht. Wir haften kollektiv. Die Frage ist, in wel¬ 
chem Sinn jeder von uns sich mitverantwortlich fühlen muß. 
Zweifellos in dem politischen Sinne der Mithaftung jedes 
Staatsangehörigen für die Handlungen die der Staat be¬ 
geht, dem er angehört. Darum aber nicht notwendig auch in 
dem moralischen Sinne der faktischen oder intellektuellen 
Beteiligung an den Verbrechen. Sollen wir Deutsche für die 
Untaten, die uns von Deutschen zugefügt wurden, oder denen 
wir wie durch ein Wunder entgangen sind, haftbar gemacht 
werden? Ja, - sofern wir geduldet haben, daß ein solches 
Regime bei uns entstanden ist. Nein, - sofern viele von uns 
in ihrem innersten Wesen Gegner all dieses Bösen waren 
und durch keine Tat und durch keine Motivation in sich 
eine moralische Mitschuld anzuerkennen brauchen. Haftbar¬ 
machen heißt nicht als moralisch schuldig erkennen. 

Kollektivschuld also gibt es zwar notwendig als politische 
Haftung der Staatsangehörigen, nicht aber darum im glei¬ 
chen Sinne als moralische und metaphysische und nicht als 
kriminelle Schuld. Die politische Haftung zu übernehmen, 
ist zwar hart in ihren furchtbaren Folgen auch für jeden ein¬ 
zelnen. Sie bedeutet für uns völlige politische Ohnmacht und 
eine Armut, die uns für lange in Hunger und Frieren oder an 
der Grenze dessen und in vergeblichen Anstrengungen zu leben 
zwingt. Aber diese Haftung als solche trifft nicht die Seele. 

Politisch handelt im modernen Staat jeder, zum minde¬ 
sten durch seine Stimmabgabe bei Wahlen oder durch Un¬ 
terlassung des Wählens. Der Sinn politischer Haftung er¬ 
laubt es niemandem, auszuweichen. 

Die politisch Aktiven pflegen sich nachträglich zu recht- 
fertigen, wenn es schlecht gegangen ist. Aber im politischen 
Handeln gelten solche Verteidigungen nicht. 

Man habe es gut gemeint, habe das Gute gewollt. Hinden- 
burg etwa habe doch Deutschland nicht ruinieren, habe es 
Hitler nicht ausliefern wollen. Das hilft ihm nichts, er hat 
es getan, und darauf kommt es in der Politik an. 


56 



Oder: Man habe das Unheil gesehen, habe es gesagt und 
habe gewarnt. Aber das gilt nicht in der Politik, wenn nicht 
die Handlungen daraus gefolgt sind, und wenn die Hand¬ 
lungen nicht Erfolg hatten. 

Man könnte denken: Es dürfe doch Menschen geben, die 
völlig apolitisch seien, ein Dasein außerhalb führten, wie 
Mönche, Einsiedler, Gelehrte und Forscher, Künstler. Wenn 
sie wirklich apolitisch seien, so trügen sie auch nicht mit an 
der Schuld. 

Aber die politische Haftung trifft sie mit, weil sie auch 
ihr Leben durch die Ordnung des Staates haben. Es gibt 
kein außerhalb in modernen Staaten. 

Man möchte wohl die Abseitigkeit ermöglichen können, 
und kann es doch nur unter dieser Einschränkung. Wir 
möchten ein apolitisches Dasein anerkennen und lieben. 
Aber mit dem Aufhören politischer Teilnahme hätten die 
Apolitischen auch kein Recht, über konkrete politische 
Handlungen des Tages zu urteilen und damit selber gefahr¬ 
lose Politik zu treiben. Ein apolitischer Bereich fordert 
auch Selbstausschaltung von politischer Wirksamkeit jeder 
Art - und hebt doch nicht in jedem Sinn eine politische 
Mithaftung auf. 

§ 3. DIE MORALISCHE SCHULD 

Jeder Deutsche prüft sich: was ist meine Schuld? 

Die Schuldfrage in bezug auf den einzelnen, sofern er sich 
selbst durchleuchtet, nennen wir die moralische. Hier be¬ 
stehen die größten Unterschiede zwischen uns Deutschen. 

Wohl hat die Entscheidung im Urteil nur der einzelne 
über sich, doch soweit wir in Kommunikation stehen, dür¬ 
fen wir miteinander reden und uns moralisch zur Klarheit 
helfen. Die moralische Verurteilung des andern aber bleibt 
in suspenso - nicht die kriminelle und nicht die politische. 

Die Grenze, an der auch die Möglichkeit moralischen Ur¬ 
teils ausbleibt, liegt dort, wo wir spüren, daß der andere 
auch nicht den Ansatz einer moralischen Selbstdurchleuch¬ 
tung zu machen scheint, - wo wir in der Argumentation 
nur Sophistik wahrnehmen, wo der andere gar nicht zu 
hören scheint. Hitler und seine Komplizen, diese kleine Mi¬ 
norität von Zehntausenden, stehen außerhalb der mora¬ 
lischen Schuld, solange sie sie überhaupt nicht spüren. Sie 


57 



scheinen unfähig der Reue und der Verwandlung. Sie sind 
wie sie sind. Solchen Menschen gegenüber bleibt nur die 
Gewalt, weil sie selber nur durch Gewalt leben. 

Die moralische Schuld aber besteht bei allen, die dem 
Gewissen und der Reue Raum geben. Moralisch schuldig 
sind die Sühnefähigen, die, die wußten oder wissen konn¬ 
ten, und die doch Wege gingen, die sie in der Selbstdurch- 
heilung als ein schuldiges Irren verstehen, - sei es, daß sie 
sich bequem verschleierten, was geschah, oder daß sie sich 
betäuben und verführen ließen, oder sich kaufen ließen 
durch persönliche Vorteile, oder daß sie aus Angst gehorch¬ 
ten. Vergegenwärtigen wir einige dieser Möglichkeiten: 

a) Das Leben in der Maske - unausweichlich für den, 
der überleben wollte - brachte moralische Schuld. Lügen¬ 
hafte Loyalitätserklärungen gegenüber drohenden Instan¬ 
zen, wie der Gestapo, - Gebärden wie der Hitlergruß, Teil¬ 
nahme an Versammlungen und vieles andere, was den 
Schein des Dabeiseins brachte -, wer von uns hätte in 
Deutschland nicht irgendwann solche Schuld? Nur der Ver¬ 
geßliche kann sich darüber täuschen, weil er sich täuschen 
will. Die Tarnung gehörte zum Grundzug unseres Daseins. 
Sie belastet unser moralisches Gewissen. 

b) Aufwühlender ist für den Augenblick der Erkenntnis 
die Schuld durch ein falsches Gewissen. Mancher junge 
Mensch erwacht mit dem schaurigen Bewußtsein: mein Ge¬ 
wissen hat mich getäuscht, - worauf kann ich mich noch 
verlassen? Ich glaubte, im Idealismus zu leben, mich für 
das edelste Ziel zu opfern und das Beste zu wollen. Jeder 
so Erwachende wird sich prüfen, wo Schuld lag durch Un¬ 
klarheit, durch Nichtsehenwollen, durch bewußten Ab¬ 
schluß in der Isolierung des eigenen, Lebens auf eine »an¬ 
ständige« Sphäre. 

Hier ist zunächst zu unterscheiden zwischen der solda¬ 
tischen Ehre und dem politischen Sinn. Denn das Bewußt¬ 
sein soldatischer Ehre bleibt unbetroffen von allen Schuld¬ 
erörterungen. Wer in Kameradschaftlichkeit treu war, in 
Gefahr unbeirrbar, durch Mut und Sachlichkeit sich be¬ 
währt hat, der darf etwas Unantastbares in seinem Selbst¬ 
bewußtsein bewahren. Dies rein Soldatische und zugleich 
Menschliche ist allen Völkern gemeinsam. Hier ist Bewäh¬ 
rung nicht nur keine Schuld, sondern, wo sie unbefleckt 


58 



durch böse Handlungen oder Ausführung offenbar böser 
Befehle wirklich war, ein Fundament des Lebenssinnes. 

Aber die soldatische Bewährung darf nicht identifiziert 
werden mit der Sache, für die gekämpft wurde. Soldatische 
Bewährung macht nicht schuldfrei für alles andere. 

Die bedingungslose Identifizierung des faktischen Staates 
mit der deutschen Nation und der Armee ist eine Schuld 
falschen Gewissens. Wer als Soldat tadellos war, kann der 
Gewissensverfälschung erlegen sein. Dadurch wurde es mög¬ 
lich, daß aus nationaler Gesinnung getan und ertragen 
wurde, was offenbar böse war. Daher das gute Gewissen 
im bösen Tun. 

Doch die Pflicht gegen das Vaterland geht viel tiefer als 
ein blinder Gehorsam gegen jeweilige Herrschaft reicht. Das 
Vaterland ist nicht mehr Vaterland, wenn seine Seele zer¬ 
stört wird. Die Macht des Staates ist kein Ziel an sich, son¬ 
dern vielmehr verderblich, wenn dieser Staat das deutsche 
Wesen vernichtet. Daher führte die Pflicht gegen das Vater¬ 
land keineswegs konsequent zum Gehorsam gegen Hitler 
und zu der Selbstverständlichkeit, auch als Hitlerstaat 
müsse Deutschland unbedingt den Krieg gewinnen. Hier 
liegt das falsche Gewissen. Es ist nicht eine einfache Schuld. 
Es ist zugleich die tragische Verwirrung, zumal eines großen 
Teils der ahnungslosen Jugend. Pflicht gegen das Vaterland 
ist der Einsatz des ganzen Menschen für die höchsten An¬ 
sprüche, die zu uns sprechen aus den Besten unserer Ahnen 
und nicht aus den Idolen einer falschen Überlieferung. 

Daher war das Erstaunliche, wie trotz alles Bösen die 
Selbstidentifizierung mit der Armee und dem Staat voll¬ 
zogen wurde. Denn diese Unbedingtheit einer blinden natio¬ 
nalen Anschauung - begreiflich nur als der letzte morsche 
Boden in einer glaubenslos werdenden Welt - war in gutem 
Gewissen zugleich moralische Schuld. 

Diese Schuld hatte weiter ihre Ermöglichung durch das 
mißverstandene Bibelwort: Sei Untertan der Obrigkeit, die 
Gewalt über dich hat, - aber sie war vollends entartet in 
der wunderlichen Heiligkeit des Befehls aus der militäri¬ 
schen Überlieferung. »Es ist Befehl«, das klang und klingt 
noch vielen pathetisch so, daß es die höchste Pflicht aus¬ 
spricht. Aber dies Wort brachte zugleich die Entlastung, 
wenn es achselzuckend das Böse und Dumme als unumgäng- 


59 



lieh gelten ließ. Vollends schuldig im moralischen Sinne 
wurde dieses Verhalten im Gehorsamsdrang, diesem trieb¬ 
haften, sich als gewissenhaft fühlenden und in der Tat alles 
Gewissen preisgebenden Verhalten. 

Mancher hat in dem Ekel vor der Naziherrschaft in den 
Jahren nach 1933 die Offizierslaufbahn ergriffen, weil hier 
die einzige anständige Atmosphäre, unbeeinflußt von der 
Partei, in der Gesinnung gegen die Partei, und scheinbar 
aus eigener Macht ohne Partei zu bestehen schien. Auch 
das war ein Gewissensirrtum, der sich - nach Ausschaltung 
aller eigenständigen Generäle alter Überlieferung - in der 
schließlichen moralischen Verwahrlosung des deutschen 
Offiziers an allen führenden Stellungen in seinen Folgen 
offenbarte - trotz der zahlreichen liebenswerten, ja edlen 
soldatischen Persönlichkeiten, die hier vergeblich Rettung 
gesucht hatten, geführt von einem täuschenden Gewissen. 

Gerade wenn das redliche Bewußtsein und der gute Wille 
im Anfang führten, muß die Enttäuschung und Selbst¬ 
enttäuschung um so stärker sein. Sie führt zur Prüfung auch 
des besten Glaubens mit der Frage, wie ich für meine Täu¬ 
schung, für jede Täuschung, der ich verfalle, verantwort¬ 
lich bin. 

Erwachen und Selbstdurchleuchtung dieser Täuschung 
ist unerläßlich. Durch sie werden aus idealistischen Jüng¬ 
lingen aufrechte, moralisch verläßliche, politisch klare deut¬ 
sche Männer, die in Bescheidung das nun verhängte Schick¬ 
sal ergreifen. 

c) Die teilweise Billigung des Nationalsozialismus, die 
Halbheit und gelegentliche innere Angleichung und Abfin¬ 
dung war eine moralische Schuld ohne jeden Zug von Tra¬ 
gik, die den vorhergehenden Weisen der Schuld eignet. 

Diese Argumentation: es ist doch auch Gutes daran - 
diese Bereitschaft zur vermeintlich gerechten Anerkennung 
- war bei uns verbreitet. Nur das radikale Entweder-Oder 
konnte wahr sein. Erkenne ich das böse Prinzip, so ist alles 
schlecht und die scheinbar guten Folgen sind selber nicht 
das, was sie zu sein scheinen. Weil diese irrende Objekti¬ 
vität bereit war, das vermeintlich Gute im Nationalsozialis¬ 
mus anzuerkennen, wurden auch bis dahin nahe Freunde 
einander fremd, man konnte mit ihnen nicht mehr offen 
reden. Derselbe, der eben beklagte, daß kein Märtyrer für 


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die alte Freiheit und gegen das Unrecht auftrete und sich 
opfere, konnte die Aufhebung der Arbeitslosigkeit (durch 
Rüstung und betrügerische Finanzwirtschaft) als hohes Ver¬ 
dienst preisen, konnte 1938 die Einverleibung Österreichs als 
Erfüllung des alten Ideals der Reichseinheit begrüßen, 1940 
Flollands Neutralität anzweifeln und den Angriff Flitlers 
rechtfertigen, und vor allem: sich der Siege freuen. 

d) Manche gaben sich der bequemen Selbsttäuschung hin: 
Sie würden diesen bösen Staat schon ändern, die Partei 
werde wieder verschwinden, spätestens mit dem Tod des 
Führers. Jetzt müsse man dabei sein, um von innen heraus 
die Sache zum Guten zu wenden. So waren die typischen 
Unterhaltungen: 

Mit Offizieren: »Wir werden den Nationalsozialismus 
nach dem Krieg gerade auf Grund unseres Sieges abschaf¬ 
fen; jetzt gilt es erst mal zusammenzuhalten, Deutschland 
zum Siege zu führen; wenn das Haus brennt, löscht man, 
und fragt nicht erst nach dem Urheber des Brandes« - 
Antwort: Nach dem Sieg werdet Ihr entlassen, geht gern 
nach Hause, allein die SS behält die Waffen und das Terror¬ 
regime des Nationalsozialismus steigert sich zum Sklaven¬ 
staat. Kein menschliches Eigenleben wird mehr möglich 
sein, Pyramiden werden errichtet, Straßen und Städte nach 
der Laune des Führers gebaut und umgestaltet. Eine un¬ 
geheure Rüstungsmaschinerie wird entwickelt zur endgül¬ 
tigen Welteroberung. 

Mit Dozenten: »Wir sind in der Partei die Fronde. Wir 
wagen unbefangene Diskussion. Wir erreichen geistige Ver¬ 
wirklichungen. Wir werden das Ganze langsam zurück¬ 
verwandeln in die alte deutsche Geistigkeit« - Antwort: 
Ihr täuscht Euch. Man läßt Euch Narrenfreiheit unter der 
Bedingung jederzeitigen Gehorsams. Ihr schweigt und gebt 
nach. Euer Kampf ist ein Schein, der der Führung erwünscht 
ist. Ihr tragt nur bei zum Grab deutschen Geistes. 

Viele Intellektuelle, die 1933 mitgemacht haben und für 
sich eine führende Wirkung erstrebten, und die öffentlich 
weltanschaulich für die neue Macht Stellung nahmen - die 
dann später, persönlich beiseite gedrängt, unwillig wurden 
- zumeist aber noch positiv blieben, bis der Kriegsverlauf 
seit 1942 den ungünstigen Ausgang sichtbar und sie nun 
erst ganz zu Gegnern machte, diese haben das Gefühl, unter 


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den Nazis gelitten zu haben und darum berufen zu sein 
für das Nachfolgende. Sie halten sich selbst für Antinazis. 
Es gab all die Jahre eine Ideologie dieser intellektuellen 
Nazis: Sie sprächen in geistigen Dingen unbefangen die 
Wahrheit aus sie bewahrten die Überlieferung des deut¬ 
schen Geistes, - sie verhüteten Zerstörungen, - sie bewirk¬ 
ten im einzelnen Förderndes. 

Unter diesen finden sich vielleicht manche, die schuldig 
sind durch eine Unveränderlichkeit ihrer Denkungsart, wel¬ 
che, ohne identisch zu sein mit Parteidoktrinen, doch die 
innere Haltung des Nationalsozialismus in der Tat festhält 
im Scheine einer Wandlung und Gegnerschaft, ohne sich 
selber zu klären. Durch diese Denkungsart sind sie viel¬ 
leicht ursprünglich verwandt dem, was im Nationalsozialis¬ 
mus das unmenschliche, diktatorische, existenzlos nihilisti¬ 
sche Wesen war. Wer als reifer Mensch im Jahre 1933 die 
innere Überzeugtheit hatte, die nicht nur in einem politischen 
Irrtum wurzelte, sondern in einem durch den National¬ 
sozialismus gesteigerten Daseinsgefühl, der wird nicht rein 
außer infolge einer Umschmelzung, die vielleicht tiefer ge¬ 
hen muß als alle anderen. Wer 1933 sich so verhalten hat, 
bliebe ohne das innerlich brüchig und zu weiterem Fana¬ 
tismus geneigt. Wer am Rassenwahn teilnahm, wer Illu¬ 
sionen von einem Aufbau hatte, der sich auf Schwindel 
gründete, wer schon damals geschehene Verbrechen in Kauf 
nahm, ist haftbar nicht nur, sondern muß sich moralisch 
erneuern. Ob er es kann, und wie er es vollzieht, ist allein 
seine Sache und von außen kaum zu beurteilen. 

e) Es ist ein Unterschied zwischen den Aktiven und Pas¬ 
siven. Die politisch Handelnden und Ausführenden, die Lei¬ 
tenden und die Propagandisten sind schuldig. Wenn sie 
nicht kriminell wurden, so haben sie doch durch Aktivität 
eine positiv bestimmbare Schuld. 

Jedoch jeder von uns hat Schuld, sofern er untätig blieb. 
Die Schuld der Passivität ist anders. Die Ohnmacht ent¬ 
schuldigt; der wirkungsvolle Tod wird moralisch nicht ver¬ 
langt. Schon Platon hielt es für selbstverständlich, in Un¬ 
heilzeiten verzweifelter Zustände sich zu verbergen und zu 
überleben. Aber die Passivität weiß ihre moralische Schuld 
für jedes Versagen, das in der Nachlässigkeit liegt, nicht 
jede irgend mögliche Aktivität zum Schutz Bedrohter, zur 


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Erleichterung des Unrechts, zur Gegenwirkung ergriffen zu 
haben. Im Sichfügen der Ohnmacht blieb immer ein Spiel¬ 
raum zwar nicht gefahrloser, aber mit Vorsicht doch wirk¬ 
samer Aktivität. Ihn ängstlich versäumt zu haben, wird 
der einzelne als seine moralische Schuld anerkennen. Die 
Blindheit für das Unheil der anderen, diese Phantasielosig- 
keit des Herzens, und die innere Unbetroffenheit von dem 
gesehenen Unheil, das ist die moralische Schuld. 

f) Die moralische Schuld im äußeren Mitgehen, das Mit- 
läufertum, ist in irgendeinem Maße sehr vielen von uns 
gemeinsam. Um sein Dasein zu behaupten, seine Stellung 
nicht zu verlieren, seine Chancen nicht zu vernichten, wurde 
man Parteimitglied und vollzog andere nominelle Zugehö¬ 
rigkeiten. 

Niemand wird dafür eine restlose Entschuldigung finden, 
zumal angesichts der vielen Deutschen, die solche Anpas¬ 
sung in der Tat nicht vollzogen und die Nachteile auf sich 
genommen haben. 

Man muß sich vergegenwärtigen, wie die Lage etwa 1936 
oder 1937 aussah. Die Partei war der Staat. Die Zustände 
schienen unabsehbar beständig. Nur ein Krieg konnte das 
Regime umwerfen. Alle Mächte paktierten mit Hitler. Alle 
wollten Frieden. Der Deutsche, der nicht völlig abseits 
stehen oder seinen Beruf verlieren oder sein Geschäft schä¬ 
digen wollte, mußte sich einfügen, zumal die Jüngeren. 
Jetzt war die Zügehörigkeit zur Partei oder zu Berufsver¬ 
bänden nicht mehr ein politischer Akt, sondern eher ein 
Gnadenakt des Staates, der den Betreffenden zuließ. Ein 
»Abzeichen« war nötig, äußerlich, ohne innere Zustimmung. 
Wer damals aufgefordert wurde, beizutreten, konnte schwer 
nein sagen. Es ist für den Sinn des Mitgehens entscheidend, 
in welchem Zusammenhang und aus welchen Motiven je¬ 
mand Parteimitglied wurde. Jedes Jahr und jede Situation 
hat seine eigentümlichen Entschuldigungen und eigentüm¬ 
lichen Belastungen, die nur im je individuellen Fall unter¬ 
schieden werden können. 

§ 4. DIE METAPHYSISCHE SCHULD 

Moral ist immer auch bestimmt durch innerweltliche 
Ziele. Moralisch kann ich verpflichtet sein zum Wagnis 
meines Lebens, wenn es sich um eine Verwirklichung han- 


63 



delt. Aber moralisch besteht keine Forderung, das Leben 
zu opfern bei sicherem Wissen, daß damit nichts erreicht 
wird. Moralisch besteht die Forderung des Wagnisses, nicht 
die Forderung der Wahl eines sicheren Unterganges. Mora¬ 
lisch ist in beiden Fällen eher noch das Gegenteil gefordert: 
nicht das für die Weltzwecke Sinnlose zu tun, sondern sich 
für Verwirklichungen in der Welt zu bewahren. 

Aber es gibt ein Schuldbewußtsein in uns, das eine andere 
Quelle hat. Metaphysische Schuld ist der Mangel an der 
absoluten Solidarität mit dem Menschen als Menschen. Sie 
bleibt noch ein unauslöschlicher Anspruch, wo die mora¬ 
lisch sinnvolle Forderung schon aufgehört hat. Diese Soli¬ 
darität ist verletzt, wenn ich dabei bin, wo Unrecht und 
Verbrechen geschehen. Es genügt nicht, daß ich mein Leben 
mit Vorsicht wage, um es zu verhindern. Wenn es geschieht, 
und wenn ich dabei war, und wenn ich überlebe, wo der 
andere getötet wird, so ist in mir eine Stimme, durch die 
ich weiß: daß ich noch lebe, ist meine Schuld. 

Ich wiederhole aus einer Rede*, die ich im August 1945 
hielt: »Wir selbst sind andere geworden seit 1933. Es war 
möglich, in der Würdelosigkeit den Tod zu suchen, - 1933, 
als nach dem Verfassungsbruch durch eine Scheinlegalität 
die Diktatur errichtet und, was sich widersetzte, im Rausche 
eines großen Teiles unserer Bevölkerung hinweggeschwemmt 
wurde. Wir konnten den Tod suchen, als die Verbrechen 
des Regimes öffentlich in Erscheinung traten am 30. Juni 
1934 oder mit den Plünderungen, Deportationen und Er¬ 
mordungen unserer jüdischen Freunde und Mitbürger, als 
zu unserer untilgbaren Schmach und Schande 1938 in ganz 
Deutschland die Synagogen, Gotteshäuser, brannten. Wir 
konnten den Tod suchen, als im Kriege das Regime von 
Anfang an gegen den Satz unseres größten Philosophen, 
Kant, handelte, der als Bedingung des Völkerrechts for¬ 
derte: es dürfen im Kriege keine Handlungen geschehen, 
die eine spätere Versöhnung der Kriegführenden schlecht¬ 
hin unmöglich machen. Tausende haben in Deutschland im 
Widerstand gegen das Regime den Tod gesucht oder doch 
gefunden, die meisten anonym. Wir Überlebenden haben 
nicht den Tod gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen 


* Abgedruckt in der »Wandlung«, Jahrgang I, Heft 1.1945 


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Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben 
nicht geschrien, bis man auch uns vernichtete. Wir haben 
es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit dem schwachen, 
wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte doch nichts 
helfen können. Daß wir leben, ist unsere Schuld. Wir wissen 
vor Gott, was uns tief demütigt. Mit uns ist durch die zwölf 
Jahre etwas geschehen, das wie eine Umschmelzung unseres 
Wesens ist.« 

Als im November 1938 die Synagogen brannten und zum 
erstenmal Juden deportiert wurden, war zwar vor allem 
moralische und politische Schuld. Beide Weisen der Schuld 
lagen bei denen, die noch Macht hatten. Die Generale stan¬ 
den dabei. In jeder Stadt konnte der Kommandant ein- 
greifen, wenn Verbrechen geschahen. Denn der Soldat ist 
zum Schutze aller da, wenn Verbrechen in einem Umfang 
geschehen, daß die Polizei sie nicht verhindern kann oder 
versagt. Sie taten nichts. Sie gaben die früher ruhmvolle 
sittliche Überlieferung der deutschen Armee in diesem 
Augenblick preis. Es ging sie nichts an. Sie hatten sich von 
der Seele des deutschen Volkes gelöst zugunsten einer ab¬ 
solut eigengesetzlichen Militärmaschinerie, die Befehlen ge¬ 
horcht. 

Unter unserer Bevölkerung waren wohl viele empört, 
viele tief ergriffen von einem Entsetzen, in dem die Ahnung 
kommenden Unheils lag. Aber noch mehr setzten ohne Stö¬ 
rung ihre Tätigkeit fort, ihre Geselligkeit und ihre Vergnü¬ 
gungen, als ob nichts geschehen sei. Das ist moralische 
Schuld. 

Diejenigen aber, die in völliger Ohnmacht, empört, ver¬ 
zweifelt es nicht hindern konnten, taten wiederum einen 
Schritt in ihrer Verwandlung durch das Bewußtwerden der 
metaphysischen Schuld. 

§ 5. ZUSAMMENFASSUNG 
a) Folgen der Schuld 

Daß wir Deutschen, daß jeder Deutsche, in irgendeiner 
Weise schuldig ist, daran kann, wenn unsere Ausführungen 
nicht völlig grundlos waren, kein Zweifel sein. Daher treten 
auch die Folgen der Schuld ein: 

1) Jeder Deutsche, ausnahmslos, hat teil an der politi¬ 
schen Haftung. Er muß mitwirken an den in Rechtsform 


65 



zu bringenden Wiedergutmachungen. Er muß mitleiden an 
den Wirkungen der Handlungen der Sieger, ihrer Willens¬ 
entschlüsse, ihrer Uneinigkeit. Wir sind nicht imstande, als 
Machtfaktor hier einen Einfluß zu haben. 

Nur ständige Bemühung um vernünftige Darlegung der 
Tatsachen, der Chancen und Gefahren kann, soweit nicht 
jedermann das Gesagte weiß, an den Voraussetzungen der 
Entschlüsse mitarbeiten. Man darf sich in angemessenen 
Formen mit Gründen an die Sieger wenden. 

2) Nicht jeder Deutsche, sogar nur eine sehr kleine Min¬ 
derheit von Deutschen, hat Strafe zu leiden für Verbrechen, 
eine andere Minderheit hat zu büßen für nationalsozialisti¬ 
sche Aktivität. Man darf sich verteidigen. Die Gerichte der 
Sieger oder die von ihnen eingerichteten deutschen Instan¬ 
zen urteilen. 

3) Wohl jeder Deutsche - wenn auch auf sehr verschie¬ 
dene Weise - hat Anlaß zur Selbstprüfung aus moralischer 
Einsicht. Hier aber braucht er keine Instanz anzuerkennen 
als nur das eigene Gewissen. 

4) Und wohl jeder Deutsche, der versteht, verwandelt in 
den metaphysischen Erfahrungen solchen Unheils sein 
Seinsbewußtsein und sein Selbstbewußtsein. Wie das ge¬ 
schieht, das kann niemand fordern und niemand vorweg¬ 
nehmen. Es ist Sache der Einsamkeit des einzelnen. Was 
daraus erwächst, das muß die wesentliche Grundlage dessen 
schaffen, was in Zukunft deutsche Seele sein wird. 

Solche Unterscheidungen lassen sich sophistisch benut¬ 
zen, um sich von der ganzen Schuldfrage zu befreien, etwa 
so: 

Politische Haftung - gut, aber sie schränkt nur meine 
materiellen Mittel ein, ich selbst in meinem Innern werde 
davon ja gar nicht betroffen. 

Kriminelle Schuld - sie trifft ja nur wenige, nicht mich, 
- es geht mich nichts an. 

Moralische Schuld - ich höre, daß nur das eigene Ge¬ 
wissen Instanz ist, andere dürfen mir keine Vorwürfe ma¬ 
chen. Mein Gewissen wird schon freundlich mit mir um¬ 
gehen. Es ist nicht allzu schlimm - Strich drunter, und 
ein neues Leben. 

Metaphysische Schuld - die hat vollends - wie ja ge¬ 
sagt wurde - niemand vom andern zu behaupten. Die soll 


66 



ich in einer Verwandlung wahrnehmen. Das ist irgendein 
spleeniger Gedanke eines Philosophen. So etwas gibt es 
nicht. Und wenn es das gibt, ich merke ja nichts davon. 
Das darf ich auf sich beruhen lassen. 

Unser Zerfasern der Schuldbegriffe kann zum Trick wer¬ 
den; mit dem man sich von Schuld befreit. Unterscheidun¬ 
gen liegen im Vordergrund. Sie können den Ursprung und 
das Eine verdecken. Mit Unterscheidungen kann man gleich¬ 
sam wegeskamotieren, was einem nicht paßt. 

b) Die Kollektivschuld 

Nach der Trennung der Momente der Schuld kehren wir 
am Ende zurück zur Frage der Kollektivschuld. 

Die Trennung, zwar überall richtig und sinnvoll, bringt 
mit sich die geschilderte Verführung, als ob man sich durch 
solche Trennungen der Anklage entzogen, seine Last er¬ 
leichtert hätte. Es ist dabei verlorengegangen, was in der 
Kollektivschuld unüberhörbar bleibt trotz allem. Die Ro¬ 
heit des Denkens in Kollektiven und der Verurteilung von 
Kollektiven verhindert nicht unser Zusammengehörigkeits¬ 
gefühl. 

Zwar ist zuletzt das wahre Kollektiv die Zusammen¬ 
gehörigkeit aller Menschen vor Gott. Jeder darf sich irgend¬ 
wo freimachen von der Gebundenheit an Staat, Volk, Grup¬ 
pe, um hindurchzubrechen in die unsichtbare Solidarität 
der Menschen als Menschen guten Willens und als Menschen 
in der gemeinsamen Schuld des Menschseins. 

Aber geschichtlich bleiben wir gebunden an die näheren 
und engeren Gemeinschaften und würden ohne sie ins Bo¬ 
denlose sinken. 

A. Politische Haftung und Kollektivschuld. 

Zunächst noch einmal der Tatbestand: Urteil und Gefühl 
der Menschen wird in der ganzen Welt weitgehend durch 
Kollektivvorstellungen geführt. Diese Tatsache kann man 
nicht verleugnen. Der Deutsche, wer auch immer der Deut¬ 
sche sei, ist heute in der Welt als etwas angesehen, mit dem 
man nicht gern zu tun haben möchte. Deutsche Juden im 
Ausland sind als Deutsche unerwünscht und gelten wesent¬ 
lich als Deutsche, nicht als Juden. Infolge dieses Kollektiv¬ 
denkens wird die politische Haftung zugleich als Strafe 
durch moralische Schuld begründet. Dieses Kollektivdenken 


67 



geschah oft in der Geschichte. Die Barbarei des Krieges hat 
die Bevölkerungen als Ganzes genommen, sie der Plün¬ 
derung, Vergewaltigung, dem Verkauf in die Sklaverei preis¬ 
gegeben. Und dazu wurde den Unglücklichen auch noch 
die moralische Vernichtung im Urteil seitens des Siegers zu¬ 
teil. Er soll sich nicht nur unterwerfen, sondern bekennen 
und Buße tun. Wer Deutscher ist, ob Christ oder Jude, 
ist eines bösen Geistes. 

Diesem Tatbestand einer verbreiteten, wenn auch nicht 
allgemeinen Meinung der Welt gegenüber sind wir immer 
wieder aufgefordert, unsere einfache Scheidung zwischen 
politischer Haftung und moralischer Schuld nicht nur zur 
Abwehr zu benutzen, sondern den möglichen Wahrheits¬ 
gehalt des Kollektivdenkens nachzuprüfen. Wir geben die 
Scheidung nicht auf, aber wir haben sie einzuschränken 
durch den Satz, daß das Verhalten, welches zur Haftung 
führte, in politischen Gesamtzuständen begründet ist, die 
gleichsam einen moralischen Charakter haben, weil sie die 
Moral des einzelnen mitbestimmen. Von diesen Zuständen 
kann sich der einzelne nicht völlig trennen, weil er, bewußt 
oder unbewußt, als ihr Glied lebt, das sich der Beeinflussung 
gar nicht entziehen kann, auch wenn er in der Opposition 
gestanden hat. Es ist so etwas wie eine moralische Kollektiv¬ 
schuld in der Lebensart einer Bevölkerung, an der ich als 
einzelner teilhabe, und aus der die politischen Realitäten 
erwachsen. 

Denn der politische Zustand und die gesamte Lebensart 
der Menschen sind nicht zu trennen. Es gibt keine absolute 
Scheidung von Politik und Menschsein, solange der Mensch 
noch ein Dasein verwirklicht und nicht als Einsiedler ab¬ 
seitig zugrunde geht. 

Durch die politischen Zustände ist der Schweizer, der 
Holländer geformt, und sind wir alle in Deutschland durch 
lange Zeiten erzogen worden, wir nämlich zum Gehorsam, 
zur dynastischen Gesinnung, zur Gleichgültigkeit und Un¬ 
verantwortlichkeit gegenüber der politischen Realität, - und 
wir haben etwas davon in uns, auch wenn wir in Gegner¬ 
schaft zu diesen Haltungen stehen. 

Die Lebensart bewirkt politische Ereignisse, die daraus 
entstehenden politischen Zustände prägen wieder die Lebens¬ 
art. Das läßt die radikale Trennung von moralischer und 


68 



politischer Schuld nicht zu. Darum ist, in dem Maße als 
das politische Bewußtsein hell wird, auch im Gewissen eine 
Belastung. Politische Freiheit schließt etwas Moralisches in 
sich. 

Damit kommt zur tatsächlichen politischen Haftung ein 
Wissen und durch dieses ein anderes Selbstbewußtsein: 
Daß die gesamte Bevölkerung tatsächlich die Folgen aller 
Staatshandlungen trägt - quidquid delirant reges plec- 
tuntur Achivi - ist ein bloß empirisches Faktum. Daß sie 
sich haftbar weiß, ist das erste Zeichen des Erwachens 
ihrer politischen Freiheit. Nur soweit dieses Wissen besteht 
und anerkannt wird, ist Freiheit wirklich da und nicht nur 
Anspruch nach außen seitens unfreier Menschen. 

Die innere politische Unfreiheit fühlt das Gegenteil. Einer¬ 
seits gehorcht sie, andererseits fühlt sie sich nicht schuldig. 
Sichschuldigfühlen und daher haftbar wissen, ist der An¬ 
fang der inneren Umwälzung, welche die politische Frei¬ 
heit verwirklichen will. 

Der Gegensatz der freien und unfreien Gesinnung zeigt 
sich beispielsweise in der Auffassung des Staatsführers. Man 
hat gesagt: Haben die Völker Schuld an den Führern, die 
sie sich gefallen lassen? Z. B. Frankreich an Napoleon. Man 
meint: die überwältigende Mehrzahl ging doch mit, wollte 
die Macht und den Ruhm, den Napoleon verschaffte. Na¬ 
poleon war nur möglich, weil die Franzosen ihn wollten. 
Seine Größe ist die Sicherheit, mit der er begriff, was die 
Volksmassen erwarteten, was sie hören wollten, welchen 
Schein sie wollten, welche materiellen Realitäten sie wollten. 
Sagte etwa Lenz mit Recht: »Der Staat war ins Leben ge¬ 
treten, der dem Genius Frankreichs entsprach?« Ja, einem 
Teil, einer Situation - aber doch nicht dem Genius eines 
Volkes schlechthin! Wer kann den Genius eines Volkes der¬ 
art bestimmen? Auch ganz andere Realitäten sind dem¬ 
selben Genius erwachsen. 

Vielleicht könnte man denken: Wie der Mann haftet für 
die Wahl der Geliebten, mit der er durch die Ehe gebunden 
in Schicksalsgemeinschaft sein Leben durchwandert, so 
haftet ein Volk für den, dem es sich gehorsam ergibt. Der 
Irrtum ist eine Schuld. Seine Folgen müssen unerbittlich 
getragen werden. 

Aber das gerade wäre verkehrt. Was in der Ehe möglich 


69 



und gehörig ist, das ist im Staat grundsätzlich schon Ver¬ 
derben: die unbedingte Bindung an einen Menschen. Die 
Treue der Gefolgschaft ist ein unpolitisches Verhältnis in 
engen Kreisen und in primitiven Verhältnissen. Im freien 
Staat gilt Kontrolle und Wechsel aller Menschen. 

Daher ist eine doppelte Schuld: erstens sich überhaupt 
politisch einem Führer bedingungslos zu ergeben, und zwei¬ 
tens die Artung des Führers, dem man sich unterwirft. Die 
Atmosphäre der Unterwerfung ist gleichsam eine kollek¬ 
tive Schuld. - 

Alle diese Einschränkungen gegenüber unserer Befreiung 
von einer moralischen Schuld zugunsten einer nur politi¬ 
schen Haftung heben nicht auf, was wir im Anfang be¬ 
gründeten und jetzt noch einmal formulieren: 

Wir tragen die politische Verantwortung für unser Re¬ 
gime, für die Taten des Regimes, für den Anfang des Krie¬ 
ges in dieser weltgeschichtlichen Lage und für die Artung 
der Führer, die wir an unsere Spitze geraten ließen. Daher 
haften wir den Siegern gegenüber mit unserer Arbeit und 
Leistungsfähigkeit und müssen wiedergutmachen, wie es 
dem Besiegten auferlegt wird. 

Dazu kommt unsere moralische Schuld. Obgleich diese 
immer nur im einzelnen Menschen liegt, so daß ein jeder 
mit sich selbst zurechtkommen muß, gibt es doch im Kol¬ 
lektiven etwas gleichsam Moralisches, das in der Lebensart 
und den Gefühlsweisen liegt, denen sich kein einzelner völ¬ 
lig entziehen kann. Diese sind auch politisch wesentlich. 
Hier liegt der Ansatz zum Besserwerden, dessen Ergreifen 
an uns selber liegt. 

B. Das eigene Bewußtsein einer Kollektivschuld: 

Wir fühlen etwas wie Mitschuld für das Tun unserer Fa¬ 
milienangehörigen. Diese Mitschuld ist nicht objektivierbar. 
Jede Weise der Sippenhaftung würden wir verwerfen. Aber 
wir sind doch geneigt, weil gleichen Blutes, uns mitgetroffen 
zu fühlen, wenn einer aus unserer Familie Unrecht tut, und 
darum auch geneigt, je nach Lage und Art des Tuns und 
der vom Unrecht Betroffenen, es wiedergutzumachen, auch 
wenn wir moralisch und juristisch nicht haften. 

So fühlt der Deutsche - d.h. der deutsch sprechende 
Mensch - sich mitbetroffen von allem, was aus dem Deut- 


7 ° 



sehen erwächst. Nicht die Haftung des Staatsangehörigen, 
sondern die Mitbetroffenheit als zum deutschen geistigen 
und seelischen Leben gehörender Mensch, der ich mit den 
andern gleicher Sprache, gleicher Herkunft, gleichen Schick¬ 
sals bin, wird hier Grund nicht einer greifbaren Schuld, 
aber eines Analogons von Mitschuld. 

Wir fühlen uns weiter beteiligt nicht nur an dem, was 
gegenwärtig getan wird, als mitschuldig am Tun der Zeit¬ 
genossen, sondern auch an dem Zusammenhang der Über¬ 
lieferung. Wir müssen übernehmen die Schuld der Väter. 
Daß in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens 
die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime, dafür 
tragen wir alle eine Mitschuld. Das bedeutet zwar keines¬ 
wegs, daß wir anerkennen müßten, »die deutsche Gedanken¬ 
welt«, »das deutsche Denken der Vergangenheit« schlecht¬ 
hin sei der Ursprung der bösen Taten des Nationalsozialis¬ 
mus. Aber es bedeutet, daß in unserer Überlieferung als 
Volk etwas steckt, mächtig und drohend, das unser sitt¬ 
liches Verderben ist. 

Wir wissen uns nicht nur als einzelne, sondern als Deut¬ 
sche. Jeder ist, wenn er eigentlich ist, das deutsche Volk. Wer 
kennt nicht den Augenblick in seinem Leben, wo er in op¬ 
positioneller Verzweiflung an seinem Volk zu sich sagt: ich 
bin Deutschland, oder im jubelnden Einklang mit ihm: 
auch ich bin Deutschland! Das Deutsche hat keine andere 
Gestalt als diese einzelnen. Daher ist der Anspruch der 
Umschmelzung, der Wiedergeburt, der Abstoßung des Ver¬ 
derblichen Aufgabe an das Volk in Gestalt der Aufgabe für 
jeden einzelnen. 

Weil ich mich nicht entbrechen kann, in tiefer Seele kol¬ 
lektiv zu fühlen, ist mir, ist jedem das Deutschsein nicht 
Bestand, sondern Aufgabe. Das ist etwas ganz anderes als 
die Verabsolutierung des Volkes. Ich bin zuerst Mensch, 
ich bin im besonderen Friese, bin Professor, bin Deutscher, 
bin mit anderen Kollektiven nahe, bis zur Verschmelzung 
der Seelen, verbunden, näher oder ferner mit allen mir fühl¬ 
bar gewordenen Gruppen; ich kann mich in Augenblicken 
vermöge dieser Nähe fast als Jude fühlen oder als Holländer 
oder als Engländer. Darin aber ist die Gegebenheit des 
Deutschseins, das heißt wesentlich das Leben in der Mutter¬ 
sprache, so nachhaltig, daß ich mich auf eine rational nicht 


7i 



mehr faßliche, ja rational sogar zu widerlegende Weise mit¬ 
verantwortlich fühle für das, was Deutsche tun und getan 
haben. 

Ich fühle mich näher den Deutschen, die auch so fühlen 
- ohne daraus eine Pathetik zu machen - und fühle mich 
ferner denen, deren Seele diesen Zusammenhang zu ver¬ 
leugnen scheint. Und diese Nähe bedeutet vor allem die 
gemeinsame, beschwingende Aufgabe, nicht Deutsch zu 
sein, wie man nun einmal ist, sondern Deutsch zu werden, 
wie man es noch nicht ist, aber sein soll, und wie man es 
hört aus dem Anruf unserer hohen Ahnen, nicht aus der 
Geschichte der nationalen Idole. 

Weil wir die Kollektivschuld fühlen, fühlen wir die ganze 
Aufgabe der Wiedererneuerung des Menschseins aus dem 
Ursprung - die Aufgabe, die alle Menschen auf der Erde 
haben, die aber dringender, fühlbarer, wie alles Sein ent¬ 
scheidend, dort auftritt, wo ein Volk durch eigene Schuld 
vor dem Nichts steht. 

Es scheint, daß ich als Philosoph nun vollends ins Ge¬ 
fühl abgeglitten bin und den Begriff verloren habe. In der 
Tat hört die Sprache auf, und nur negativ ist zu erinnern, 
daß alle unsere Unterscheidungen, unbeschadet dessen, daß 
wir sie für wahr halten und keineswegs rückgängig machen, 
nicht zum Ruhebett werden dürfen. Wir dürfen nicht mit 
ihnen die Sache erledigen und uns befreien von dem Druck, 
unter dem wir unseren Lebensweg weiter gehen, und durch 
den das Kostbarste zur Reife kommen soll, das ewige Wesen 
unserer Seele. 


72 



II. Möglichkeiten der Entschuldigung 


Wir selbst und die uns Wohlwollen haben Gedanken be¬ 
reit, unsere Schuld zu erleichtern. Es kann sich nicht dar¬ 
um handeln, die Schuld in dem Sinne, den wir unterschei¬ 
dend und wieder vereinend entwickelt haben, aufzuheben. 
Aber es gibt Gesichtspunkte, die, indem sie ein milderes 
Urteil nahelegen, zugleich die Art der jeweils gemeinten 
Schuld schärfer fassen und charakterisieren. 

§ 1 . DER TERRORISMUS 

Deutschland unter dem Naziregime war ein Zuchthaus. 
Die Schuld, in dieses Zuchthaus zu geraten, ist politische 
Schuld. Sind die Türen des Zuchthauses aber einmal zu¬ 
geschlagen, so kann das Zuchthaus von innen nicht auf¬ 
gebrochen werden. Die Verantwortlichkeit und die Schuld 
der Eingesperrten, die nun noch bleibt und entsteht, ist 
immer unter der Frage zu erörtern, was dann zu tun über¬ 
haupt möglich ist. 

Im Zuchthaus die Zuchthausinsassen insgesamt verant¬ 
wortlich zu machen für die Schandtaten der Zuchthausauf¬ 
seher ist offenbar ungerecht. 

Man sagte, die Millionen, die Millionen Arbeiter und die 
Millionen Soldaten hätten Widerstand leisten sollen. Sie 
haben es nicht getan, sie haben für den Krieg gearbeitet 
und haben gekämpft, also sind sie schuldig. 

Dagegen ist zu sagen: Die 15 Millionen Fremdarbeiter 
haben so gut für den Krieg gearbeitet wie die deutschen 
Arbeiter. Daß auf ihrer Seite mehr Sabotageakte vorgekom¬ 
men seien, ist unerwiesen. Nur in den letzten Wochen, als 
der Zusammenbruch schon im Gange war, scheinen die 
Fremdarbeiter größere Aktivität entfaltet zu haben. 

Es ist unmöglich, zu größeren Aktionen zu kommen, ohne 
sich unter Führern zu organisieren. Die Forderung an eine 
Staatsbevölkerung, auch gegen einen Terrorstaat zu revol¬ 
tieren, verlangt das Unmögliche. Solche Revolte kann nur 
zerstreut, ohne wirklichen Zusammenhang geschehen, bleibt 
durchweg anonym und in der Folge unbekannt, ist ein stil¬ 
les Versinken in den Tod. Nur wenige Ausnahmen gibt es, 
die durch besondere Umstände bekannt wurden, aber auch 
nur mündlich und in beschränktem Umfang (wie das Hel- 


73 



dentum der Geschwister Scholl, dieser deutschen Studen¬ 
ten, und des Professors Huber in München). 

Es ist verwunderlich, wie da Anklage erhoben werden 
kann. Franz Werfel, der kurz nach dem Zusammenbruch 
Hitler-Deutschlands einen Aufsatz erbarmungsloser An¬ 
klage gegen das ganze deutsche Volk schrieb, sagte: Nur 
der eine Niemöller habe Widerstand geleistet; - und im 
selben Aufsatz spricht er von den Hunderttausenden, die 
im KZ umgebracht wurden - warum? doch weil sie, wenn 
auch meist nur durch Worte, Widerstand geleistet hatten. 
Es sind die anonymen Märtyrer, die durch ihr wirkungs¬ 
loses Verschwinden nur um so deutlicher machen, daß es un¬ 
möglich war. Bis 1939 waren doch die KZ’s eine rein inner¬ 
deutsche Sache und auch nachher wurden sie zu guten 
Teilen mit Deutschen gefüllt. Politische Verhaftungen im 
Jahre 1944 übertrafen in jedem Monat die Zahl von 4 000. 
Daß es bis zuletzt KZ’s gab, beweist die Opposition im 
Lande. 

In dem Anklagen meinen wir zuweilen den Ton eines 
Pharisäismus zu hören derer, die unter Gefahren entronnen, 
aber am Ende - gemessen am Leiden und Tod im KZ wie 
an der Angst in Deutschland, - doch ohne Zwang des Ter¬ 
rors, wenn auch mit dem Leid des Emigranten, im Ausland 
lebten, - und nun ihre Emigration als solche für Verdienst 
halten. Solchem Ton gegenüber halten wir uns für berech¬ 
tigt zur Abwehr ohne Zorn. 

Es gibt in der Tat Stimmen gerechter Menschen, die 
gerade den Terrorapparat und seine Folgen durchschauen. 
So Dwight Macdonald in der Zeitschrift Politics vom 
März 1945: Der Gipfel des Terrors und der erzwungenen 
Schuld unter dem Terror wird erreicht mit der Alter¬ 
native: Töten oder getötet werden. Manche der Komman¬ 
danten, die zum Erschießen und Ermorden bestimmt wa¬ 
ren, sagt er, weigerten sich, an den Grausamkeiten teilzu¬ 
nehmen, und wurden erschossen. 

So Hannah Arendt: Der Terror brachte das erstaunliche 
Phänomen hervor, daß an den Verbrechen der Führer das 
deutsche Volk beteiligt wurde. Aus Unterworfenen wurden 
Komplizen. Allerdings nur in beschränktem Umfang, aber 
doch so, daß Menschen, von denen man es niemals für mög¬ 
lich gehalten hätte, Familienväter, fleißige Bürger, die 


74 



pflichtgemäß jeden Beruf ausüben, so auch pflichtgemäß 
mordeten und auf Befehl die andern Untaten in den KZ’s 
vollzogen * 

§ 2 . SCHULD UND HISTORISCHER ZUSAMMENHANG 

Wir unterscheiden Ursache und Schuld. Die Darlegung, 
warum etwas so gekommen ist und wie es gar notwendig so 
kommen mußte, gilt unwillkürlich als Entschuldigung. Die 
Ursache ist blind und notwendig, die Schuld ist sehend 
und frei. 

So pflegen wir es auch mit dem politischen Geschehen 
zu machen. Der historische Kausalzusammenhang scheint 
das Volk von der Verantwortung zu entlasten. Daher die 
Befriedigung, wenn im Unheil die Unausweichlichkeit aus 
wirksamen Ursachen begreifbar scheint. 

Es ist die Neigung vieler Menschen, die Verantwortung 
zu übernehmen und zu betonen, wenn es sich um ihr gegen¬ 
wärtiges Tun handelt, dessen Willkür sie von Einschrän¬ 
kungen, Bedingungen und Forderungen entlasten möchten, 
- aber andererseits die Neigung, bei Mißlingen die Verant¬ 
wortung abzulehnen zugunsten vermeintlich unausweich¬ 
licher Notwendigkeiten. Von Verantwortung war nur ge¬ 
redet, was Verantwortung sei, aber nicht erfahren worden. 

Entsprechend hörte man all die Jahre: Wenn Deutsch¬ 
land den Krieg gewinnt, so hat die Partei ihn gewonnen 
und hat das Verdienst, - verliert Deutschland den Krieg, 
so verliert ihn das deutsche Volk und hat die Schuld. 

Nun liegt es aber bei historischen Kausalzusammen¬ 
hängen so, daß die Trennung von Ursache und Verant¬ 
wortung überall da nicht durchführbar ist, wo mensch¬ 
liches Handeln selber ein Faktor ist. Sofern Entschlüsse 
und Taten mitwirken am Geschehen, ist, was Ursache ist, 
zugleich Schuld oder Verdienst. 

Was nicht an Wille und Entschluß liegt, das ist doch 
immer zugleich Aufgabe für den Menschen. Wie das Natur¬ 
gegebene sich auswirkt, das liegt noch zugleich auch daran, 
wie der Mensch es auffaßt, damit umgeht, was er daraus 


* Hannah Arendt hat dies mit sachlicher Nüchternheit ergreifend 
dargestellt in ihrem Aufsatz »Organisierte Schuld« (Wandlung, erster 
Jahrgang, Heft 4, April 1946, - zuerst englisch erschienen in Jewish 
Frontier, Januar 1945). 


75 



macht. Daher ist die historische Erkenntnis in keinem Falle 
von der Art, daß sie den Ablauf als schlechthin notwendig 
begreifen kann. Diese Erkenntnis, wie sie niemals eine si¬ 
chere Voraussage machen kann (wie es etwa in der Astro¬ 
nomie möglich ist), kann auch in der rückläufigen Betrach¬ 
tung keine Unausweichlichkeit des Gesamtgeschehens und 
des einzelnen Handelns nachträglich erkennen. Sie sieht in 
beiden Fällen den Raum der Möglichkeiten und diesen in 
bezug auf die Vergangenheit nur reicher und konkreter. 

Diese Erkenntnis - die historisch-soziologische Einsicht 
und das historische Bild, das entworfen wird - ist selber 
wieder ein Faktor des Geschehens und insofern Sache der 
Verantwortung. 

Unter den gegebenen Bedingungen, die als solche noch 
außerhalb der Freiheit, daher außerhalb von Schuld und 
Verantwortung liegen, nennt man vor allem die geogra¬ 
phischen Bedingungen und die weltgeschichtliche Lage. 

1) Die geographischen Bedingungen 

Deutschland hat nach allen Seiten offene Grenzen. Wenn 
es als Staat sich halten will, muß es militärisch jeden Augen¬ 
blick stark sein. Zeiten der Schwäche machten es zur Beute 
der Staaten von Westen, Osten und Norden, schließlich so¬ 
gar von Süden (Türken). Deutschland kannte seiner geo¬ 
graphischen Lage willen niemals die Ruhe unbedrohten Da¬ 
seins, wie England und noch mehr Amerika. England konnte 
sich für seine großartige innenpolitische Entwicklung Jahr¬ 
zehnte außenpolitischer Ohnmacht und militärischer Schwä¬ 
che leisten. Es wurde darum noch keineswegs erobert. 1066 
war die letzte Invasion. Ein Land wie Deutschland, das 
nicht zusammengehalten ist durch klare Grenzen, war ge¬ 
zwungen, militärische Staaten hervorzubringen, um über¬ 
haupt als Volkstum bestehen zu bleiben. Das leistete lange 
Zeit Österreich, dann Preußen. 

Die Besonderheit des jeweiligen Staates und seine mili¬ 
tärische Art prägte sich dem übrigen Deutschland als etwas 
stets auch als fremd Gefühltes auf. Man mußte es sich mit 
Mühe verschleiern, daß innerhalb Deutschlands im Grunde 
immer eine Herrschaft des, obzwar auch Deutschen, doch 
Fremden über das übrige war, oder daß die Ohnmacht des 
Zerstreuten es dem Ausland preisgab. 


76 



Daher gab es kein dauernd gültiges Zentrum, sondern nur 
vorübergehende Mittelpunkte. Die wechselnden Schwer¬ 
punkte Deutschlands hatten zur Folge, daß jeder nur von 
einem Teile Deutschlands als der seinige gefühlt und aner¬ 
kannt werden konnte. 

So gab es in der Tat auch keine geistige Mitte, in der 
sich alle Deutschen trafen. Auch unsere klassische Literatur 
und Philosophie war noch nicht Besitz des deutschen Vol¬ 
kes, sondern nur einer kleinen Bildungsschicht, die aber 
über alle deutschen Staatsgrenzen hinaus soweit reichte wie 
deutsch gesprochen wurde. Und hier besteht nicht einmal 
Einmütigkeit in der Anerkennung des Großen. 

Man könnte sagen, daß die geographische Lage sowohl 
den Militarismus mit den Folgen des allgemeinen Unter¬ 
tanengeistes, der Servilität, des Mangels an Freiheitsbewußt¬ 
sein und demokratischem Geist erzwang, als auch jedes 
Staatsgebilde zu einer notwendig vorübergehenden Erschei¬ 
nung machte. Nur solange günstige Umstände und unge¬ 
wöhnlich besonnene, überlegene Staatsmänner da waren, 
konnte ein Staat eine Weile bestehen. Ein einziger verant¬ 
wortungsloser Führer konnte den Staat und Deutschland 
für immer zur politischen Vernichtung bringen. 

So richtig ein Grundzug aller dieser Überlegungen ist, so 
wesentlich aber ist es für uns, hier nicht etwa eine absolute 
Notwendigkeit zu sehen. Welche Militärform sich bildet, ob 
weise Führer auftreten oder nicht, das entspringt keines¬ 
wegs der geographischen Lage. 

In ähnlicher geographischer Lage hat etwa die politische 
Energie, Solidarität und Besonnenheit der Römer ganz an¬ 
dere Ergebnisse, nämlich die Vereinigung Italiens und 
schließlich ein Weltreich hervorgebracht, allerdings auch 
am Ende mit Vernichtung der Freiheit. Das Studium des 
republikanischen Roms ist von höchstem Interesse (weil es 
zeigt, wie militärische Entwicklung und Imperialismus ein 
demokratisches Volk zum Verlust der Freiheit und zur 
Diktatur führen). 

Wenn die geographischen Bedingungen noch einen Spiel¬ 
raum von Freiheit lassen, ist es also, so pflegt man zu sagen, 
der naturgegebene Volkscharakter, der entscheidet und 
außerhalb von Schuld und Verantwortung liegt. Das nun 
ist ein asylum ignorantiae und ein Mittel, falsche Wer- 


77 



tungen, sei es Steigerungen, sei es Herabsetzungen zu voll¬ 
ziehen. 

Daß in der naturgegebenen Grundlage unseres vitalen 
Daseins etwas liegt, das bis in die Spitze der Geistigkeit 
irgendwelche Auswirkungen hat, ist wahrscheinlich. Aber 
wir dürfen sagen, daß wir so gut wie gar nichts davon wis¬ 
sen. Die Intuition des unmittelbaren Eindrucks, ebenso evi¬ 
dent wie täuschend, im Augenblick bezwingend wie auf die 
Dauer unverläßlich, ist durch irgendeine Rassenkunde nicht 
auf ein höheres Niveau wirklichen Wissens gebracht worden. 

Der Volkscharakter wird in der Tat immer geschildert 
mit jeweils herausgegriffenen geschichtlichen Erscheinun¬ 
gen. Diese jedoch sind immer schon Ergebnis der Ereignisse 
und der durch sie geprägten Zustände. Sie sind jeweils eine 
Gruppe von Erscheinungen, die nur als ein Typus unter 
anderen vorkommt. Je nach Lage können ganz andere sonst 
verborgene Möglichkeiten des Charakters ans Licht kom¬ 
men. Ein endgültiger naturgegebener Charakter nebst Be¬ 
gabungen besteht wahrscheinlich, aber wir kennen ihn 
schlechthin nicht. 

Wir dürfen unsere Verantwortung nicht dahin abschie¬ 
ben, sondern müssen als Menschen uns frei wissen zu allen 
Möglichkeiten. 

2) Die weltgeschichtliche Lage 

Wie Deutschland in der Welt steht, was in der Welt ge¬ 
schieht, wie die anderen sich zu Deutschland verhalten, das 
ist für Deutschland um so wesentlicher als seine ungeschützte 
geographische Lage in der Mitte es den Auswirkungen von 
der Welt her mehr aussetzt als andere Länder. Daher das 
Rankewort vom Primat der Außenpolitik vor der Innen¬ 
politik für Deutschland, nicht historisch überhaupt gilt. 

Ich stelle die politischen Zusammenhänge des letzten 
halben Jahrhunderts und besonders der Ereignisse und Ver¬ 
haltensweisen seit 1918, seit dem ersten Sieg der Alliierten 
über Deutschland, nicht dar. Sie sind gewiß nicht gleich¬ 
gültig für das, was in Deutschland möglich wurde. Ich werfe 
den Blick nur auf ein inneres, geistiges Weltphänomen. 
Vielleicht - aber wer dürfte es wagen, hier wirkliche Er¬ 
kenntnisse zu behaupten - darf man sagen: 

In Deutschland kam zum Ausbruch, was in der gesamten 


78 



abendländischen Welt als Krise des Geistes, des Glaubens 
im Gange war. 

Das mindert die Schuld nicht. Denn hier in Deutschland 
und nicht anderswo kam es zum Ausbruch. Aber es befreit 
aus der absoluten Isolierung. Es wird lehrreich für die an¬ 
dern. Es geht jeden an. 

Diese kritische weltgeschichtliche Lage ist nicht einfach 
zu bestimmen. Das Absinken der Wirksamkeit christlichen 
und biblischen Glaubens überhaupt; die Glaubenslosigkeit, 
die nach Ersatz greift; die durch Technik und Arbeitsweise 
hervorgerufene gesellschaftliche Wandlung, die aus der 
Natur der Sache unaufhaltsam zu sozialistischen Ordnun¬ 
gen führt, in denen die Masse der Bevölkerung, jedermann 
zu seinem Recht als Mensch kommt. Diese Wandlungen 
sind im Gange, der Zustand ist überall mehr oder weniger 
so, daß man sagt: es muß anders werden. In solcher Lage 
neigen die am schwersten getroffenen, ihrer Unbefriedigung 
bewußtesten Menschen zu voreiligen, überhasteten, täu¬ 
schenden, schwindelhaften Lösungen. 

In einem Prozeß, der die Welt ergriffen hat, hat Deutsch¬ 
land eine solche schwindelhafte Extratour in seinen Ab¬ 
grund getanzt. 

§ 3. DIE SCHULD DER ANDEREN 

Wer noch nicht aus eigenem Antrieb sich selbst durch¬ 
leuchtend seine Schuld begriffen hat, der wird die Neigung 
haben, den Ankläger anzuklagen, etwa mit der Frage, ob 
er nicht von derselben Art sei, wie die Menschen, denen er 
Vorwürfe macht, oder ob er nicht eine Mitschuld trage an 
dem, was getan worden ist, durch Handlungen, die solche 
Möglichkeiten fördern mußten. 

Die Neigung zum Zurückschlagen ist in diesem Augen¬ 
blick bei uns Deutschen ein Zeichen dafür, daß wir uns 
selbst noch nicht verstanden haben. Denn in der Kata¬ 
strophe ist das erste Interesse eines jeden von uns die Klar¬ 
heit über sich selbst. Die Grundlegung unseres neuen Le¬ 
bens aus dem Ursprung unseres Wesens kann nur erreicht 
werden in restloser Selbstdurchleuchtung. 

Aber das heißt nicht, daß wir nicht sehen dürften, was 
Tatsache ist und was wahr ist, wenn wir auf die anderen 
Staaten blicken, denen Deutschland am Ende die Befrei- 


79 



ung vom Hitlerjoch verdankt und deren Entscheidungen 
unser weiteres Leben überantwortet ist. 

Wir müssen und dürfen uns klarmachen, was durch das 
Verhalten der anderen unsere Lage innerlich und äußerlich 
erschwert hat. Denn was sie getan haben und tun werden, 
kommt aus der Welt, in der wir, in völliger Abhängigkeit 
von ihr, unseren Weg finden sollen. Wir müssen Illusionen 
vermeiden und die rechte Einschätzung im ganzen gewin¬ 
nen. Wir dürfen weder in blinde Ablehnung noch in blinde 
Erwartung verfallen. 

Wenn wir von einer Schuld der anderen sprechen, so kann 
das Wort irreführen. Wenn sie die Ereignisse durch ihr Ver¬ 
halten ermöglicht haben, so ist das eine politische Schuld. 
Deren Erörterung darf keinen Augenblick vergessen lassen, 
daß sie auf einer anderen Ebene liegt als die Verbrechen 
Hitlers. 

Zwei Punkte scheinen uns wesentlich: Die politischen 
Handlungen der Siegermächte seit 1918, und das Dabei¬ 
stehen dieser Mächte, als Hitlerdeutschland sich aufbaute: 

1. England, Frankreich, Amerika waren die Siegermächte 
von 1918. In ihren Händen, nicht in denen der Besiegten, 
lag der Gang der Weltgeschichte. Der Sieger übernimmt 
eine Verantwortung, die nur er hat, oder er entzieht sich 
ihr. Und wenn er es tut, ist seine geschichtliche Schuld 
offenbar. 

Es kann nicht gelten, daß der Sieger sich einfach zurück¬ 
zieht auf seinen engeren Bereich und Ruhe haben will, und 
nur zusieht, was in der Welt sonst geschieht. Er hat die 
Macht, es zu verhindern, wenn ein Ereignis unheilvolle 
Folgen ankündigt. Die Nichtbenutzung dieser Macht ist 
eine politische Schuld dessen, der sie besitzt. Beschränkt 
er sich auf papierene Beschuldigungen, so hat er sich seiner 
Aufgabe entzogen. Dieses Nichthandeln nun ist ein mög¬ 
licher Vorwurf gegen die Siegermächte, der uns allerdings 
von keiner Schuld befreit. 

Man kann dies weiter erörtern unter Hinweis auf den 
Friedensvertrag von Versailles und seine Folgen, dann auf 
das Hineingleitenlassen Deutschlands in den Zustand, der 
den Nationalsozialismus hervortrieb. Man kann weiter die 
Duldung des Einmarsches der Japaner in die Mandschurei, 
dieses ersten Gewaltaktes, der, wenn er gelang, Schule ma- 


80 



chen mußte, man kann die Duldung des Abessinienfeld¬ 
zuges 1935, dieses Gewaltaktes Mussolinis, Vorhalten. Man 
kann die Politik Englands beklagen, das am Genfer Völker¬ 
bund durch Beschlüsse Mussolini mattsetzte, aber diese Be¬ 
schlüsse papierene bleiben ließ, ohne Wille und Kraft, jetzt 
Mussolini wirklich zu vernichten, - aber auch ohne die klare 
Radikalität, sich ihm umgekehrt zu verbinden und mit ihm, 
sein Regime langsam verwandelnd, gegen Hitler zu stehen, 
um den Frieden zu sichern. Denn damals war Mussolini 
bereit, mit den Westmächten gegen Deutschland zu halten, 
wie er noch 1934 mobilisierte und die später vergessene 
Drohrede gegen Hitler hielt, als dieser in Österreich ein¬ 
marschieren wollte. Diese halbe Politik bewirkte das Bünd¬ 
nis Hitler-Mussolini. 

Aber dazu ist zu sagen: Niemand weiß, was bei anderen 
Entschlüssen die weiteren Folgen gewesen wären. Und vor 
allem: Die Engländer machen eine auch moralische Politik 
(was von nationalsozialistischem Denken sogar als Schwäche 
Englands einkalkuliert wurde). Die Engländer können da¬ 
her nicht hemmungslos jeden politisch wirkungsvollen Ent¬ 
schluß fassen. Sie wollen den Frieden. Sie wollen jede Chance, 
ihn zu erhalten, noch nutzen, bevor sie zum Äußersten schrei¬ 
ten. Erst bei offenbarer Ausweglosigkeit sind sie zum Krieg 
bereit. 

2. Es gibt nicht nur staatsbürgerliche, sondern auch euro¬ 
päische und menschheitliche Solidarität. Die Verantwor¬ 
tung des untätigen Dabeistehens besteht in Abstufungen 
von Staatsbürgern untereinander bis zur Menschheit. 

Ob berechtigt oder unberechtigt, wir haben, als die Tür 
des Zuchthauses Deutschland zugeschlagen war, auf euro¬ 
päische Solidarität gehofft. 

Noch ahnten wir nicht die letzten grauenhaften Folgen 
und Verbrechen. Aber wir sahen den radikalen Verlust der 
Freiheit. Wir wußten, daß damit der Willkür der Macht¬ 
haber Raum gegeben sei. Wir sahen das Unrecht, sahen 
Ausgestoßene, wenn es auch noch harmlos war gegen das, 
was spätere Jahre brachten. Wir wußten von Konzentra¬ 
tionslagern noch ohne Kenntnis der dort geschehenden 
Grausamkeiten. 

Gewiß war es unser aller Mitschuld in Deutschland, daß 
wir in diesen politischen Zustand hineingeraten waren, daß 


81 



wir unsere Freiheit verloren hatten und unter der Despotie 
kulturloser, roher Menschen leben mußten. Aber wir durf¬ 
ten zugleich zur Entlastung uns sagen, daß wir einer Kom¬ 
bination von verschleierten Rechtsbrüchen und Gewalt¬ 
akten zum Opfer gefallen waren. Wie im Staat der durch 
Verbrechen Verletzte vermöge der Staatsordnung sein Recht 
erhält, so hofften wir, daß eine europäische Ordnung solche 
Staatsverbrechen nicht zulassen würde. 

Mir ist unvergeßlich ein Gespräch in meiner Wohnung 
mit einem später emigrierten, jetzt in Amerika lebenden 
Freunde im Mai 1933, in dem wir sehnsüchtig die Möglich¬ 
keit baldigen Einmarsches der Westmächte erwogen: wenn 
sie noch ein Jahr warten, hat Hitler gewonnen, ist Deutsch¬ 
land verloren, ist vielleicht Europa verloren. 

In solcher Verfassung, als in der Wurzel Getroffene und 
darum in manchem Hellsichtige, für anderes blind, erlebten 
wir folgende Ereignisse mit immer neuen Schrecken: 

Im Frühsommer 1933 schloß der Vatikan ein Konkordat 
mit Hitler. Papen führte die Verhandlungen. Es war die 
erste große Bestätigung des Hitlerregimes, ein gewaltiger 
Prestigegewinn für Hitler. Es schien zunächst unmöglich. 
Aber es war Tatsache. Uns befiel ein Grauen. 

Alle Staaten erkannten das Hitler-Regime an. Man hörte 
Stimmen der Bewunderung. 

1936 wurde in Berlin die Olympiade gefeiert. Die ganze 
Welt strömte dahin. Ingrimmig konnten wir jeden Aus¬ 
länder, der dort erschien, nur mit dem Schmerze sehen, daß 
er uns im Stiche läßt, - aber sie wußten es so wenig, wie 
viele Deutsche. 

1936 wurde das Rheinland von Hitler besetzt. Frank¬ 
reich duldete es. 

1938 stand ein offener Brief Churchills an Hitler in der 
Times, in dem Sätze vorkamen wie dieser: Sollte England 
in ein nationales Unglück kommen, das dem Unglück 
Deutschlands 1918 vergleichbar wäre, so werde ich Gott 
bitten, uns einen Mann zu senden von Ihrer Kraft des Wil¬ 
lens und des Geistes (ich erinnere selbst, aber zitiere nach 
Röpke). 

1935 schloß England durch Ribbentrop den Flottenpakt 
mit Hitler. Das bedeutete uns: England gibt das deutsche 
Volk preis, wenn es nur Frieden mit Hitler halten kann. 


82 



Wir sind ihnen gleichgültig. Sie haben noch nicht eine euro¬ 
päische Verantwortung übernommen. Sie stehen nicht nur 
dabei, wo hier das Böse wächst, sondern sie vertragen sich 
mit ihm. Sie lassen die Deutschen in einem terroristischen 
Militärstaat versinken. Zwar wird in ihren Zeitungen ge¬ 
scholten, aber sie tun nichts. Wir in Deutschland sind ohn¬ 
mächtig. Sie könnten noch, jetzt noch vielleicht ohne über¬ 
mäßige Opfer, die Freiheit bei uns wiederherstellen. Sie tun 
es nicht. Es wird auch für sie Folgen haben und viel grö¬ 
ßere Opfer kosten. 

1939 schloß Rußland den Pakt mit Hitler. Dadurch wurde 
im letzten Augenblick der Krieg für Flitler erst möglich, - 
und als der Krieg begonnen wurde, da standen alle die neu¬ 
tralen Staaten abseits. Keineswegs stand die Welt zusam¬ 
men, um durch eine einzige gemeinsame Anstrengung 
schnell die Teufelei auszulöschen. 

Die Gesamtsituation der Jahre 33 bis 39 charakterisiert 
Röpke in seinem in der Schweiz erschienenen Buch über 
Deutschland: 

»Die heutige Weltkatastrophe ist der gigantische Preis, 
den die Welt dafür zahlen muß, daß sie sich taub gestellt 
hat gegenüber allen Alarmsignalen, die von 1930 bis 1939 
in immer schrilleren Tönen die Hölle ankündigten, die die 
satanischen Kräfte des Nationalsozialismus loslassen soll¬ 
ten, zuerst gegen Deutschland selbst und dann gegen die 
übrige Welt. Die Schrecken dieses Krieges entsprechen ge¬ 
nau den anderen, die die Welt in Deutschland hingehen 
ließ, während sie sogar normale Beziehungen mit den Na¬ 
tionalsozialisten aufrechterhielt und mit ihnen internatio¬ 
nale Feste und Kongresse organisierte.« 

»Heute sollte sich jeder darüber klar sein, daß die Deut¬ 
schen die ersten Opfer der Barbareninvasion gewesen sind, 
die sich von unten herauf über sie ergoß, daß sie die ersten 
waren, die mit Terror und Massenhypnose überwältigt wur¬ 
den und daß alles, was dann später die besetzten Länder 
zu erdulden hatten, zuerst den Deutschen selbst zugefügt 
worden ist, eingeschlossen das allerschlimmste Schicksal: 
zu Werkzeugen weiterer Eroberung und Unterdrückung ge¬ 
preßt oder verführt zu werden.« 

Wenn man uns vorwirft, daß wir - unter dem Terror - 
untätig dabeistanden, als die Verbrechen begangen wurden, 


83 



und als das Regime sich befestigte, so ist das wahr. Wir 
dürfen uns vergegenwärtigen, daß die anderen - ohne unter 
Terror zu stehen - ebenfalls untätig geschehen ließen, ja 
unabsichtlich förderten, was sie, weil es in einem anderen 
Staate geschah, nicht als eine sie betreffende Sache an¬ 
sahen. 

Sollen wir anerkennen, daß wir allein schuldig sind? 

Ja, sofern es sich handelt darum, wer den Krieg ange¬ 
fangen hat, - 

wer zuerst die terroristische Organisation aller Kräfte auf 
den einen Zweck des Krieges hin durchgeführt hat, - 

wer als Volk in seinem Staat das eigene Wesen verraten 
und preisgegeben hat, - 

mehr noch: wer eigentümliche, alle anderen übertreffende 
Greuel getan hat. Dwight Macdonald sagt, daß viele Kriegs¬ 
greuel auf allen Seiten stattfanden, aber einiges den Deut¬ 
schen eigentümlich sei: ein paranoischer Haß ohne politi¬ 
schen Sinn, - eine mit allen modernen technischen Mitteln 
rational vollzogene Grausamkeit der Qualen, hinaus über 
alle mittelalterlichen Folterwerkzeuge. - Jedoch waren das 
einige Deutsche, eine kleine Gruppe (mit einer unbestimm¬ 
ten Grenze derer, die auf Befehl imstande waren mitzu¬ 
wirken). Der deutsche Antisemitismus war in keinem Augen¬ 
blick eine Volksaktion. Bei den deutschen Pogromen fehlte 
die Mitwirkung der Bevölkerung, es fanden keine spontanen 
Grausamkeitsakte gegen Juden statt. Die Volksmenge 
schwieg und zog sich zurück, soweit sie nicht ihren Unwillen 
zu schwachem Ausdruck brachte. 

Sollen wir anerkennen, daß wir allein schuldig sind? 

Nein, sofern wir als Ganzes, als Volk, als dauernde Artung 
zu dem bösen Volk schlechthin gemacht werden, - zu dem 
schuldigen Volk an sich. Gegen diese Weltmeinung können 
wir hinweisen auf Tatsachen. 

Solche Erörterungen sind aber für unsere innere Haltung 
nur dann nicht gefährlich, wenn wir nie vergessen, was noch 
einmal wiederholt sei: 

1. Alle Schuld, die man den anderen geben kann, und 
die sie sich selbst geben, war nicht die Schuld der Verbre¬ 
chen, die Hitlerdeutschland begangen hat. Es war bei ihnen 
damals ein Gehenlassen und eine Halbheit, ein politisches 
Irren. 


84 



Daß in der Folge des Krieges die Gegner auch Gefan¬ 
genenlager als Konzentrationslager hatten und Kriegshand¬ 
lungen vollzogen, die zuerst Deutschland vollzog, das ist 
sekundär. Von den Ereignissen seit dem Waffenstillstand 
ist hier nicht die Rede, nicht von dem, was Deutschland 
erlitten hat und nach der Kapitulation weiter erleidet. 

2. Unsere Schulderörterungen dienen der Aufgabe, den 
Sinn unserer eigenen Schuld zu durchdringen, auch dann, 
wenn wir von einer Schuld der anderen reden. 

3. Das Wort: die anderen sind nicht besser als wir, gilt 
wohl. Aber es wird falsch angewandt in diesem Augenblick. 
Denn jetzt, in diesen vergangenen 12 Jahren, waren alles 
in allem genommen die anderen in der Tat besser als wir. 
Die allgemeine Wahrheit darf nicht dazu dienen, die beson¬ 
dere gegenwärtige Wahrheit der eigenen Schuld zu nivel¬ 
lieren. 

§ 4. ALLER SCHULD 

Sagt man gegenüber den Unstimmigkeiten des politi¬ 
schen Verhaltens der Mächte, daß es sich hier überall um 
die Unausweichlichkeiten der Politik handelt, so ist die Ant¬ 
wort: das ist die allen Menschen gemeinsame Schuld. 

Die Vergegenwärtigung der Handlungen der anderen ist 
für uns nicht von der Bedeutung, unsere Schuld zu erleich¬ 
tern, wohl aber berechtigt aus der Sorge, die wir als Men¬ 
schen mit allen anderen für die Menschheit haben, die heute 
als Ganzes nicht nur zum Bewußtsein gekommen ist, son¬ 
dern infolge der Ergebnisse des technischen Zeitalters auf 
ihre Ordnung hinwirkt oder diese verfehlt. 

Die Grundtatsache, daß wir alle Menschen sind, berech¬ 
tigt uns zu dieser Sorge um das Menschsein im ganzen. Wir 
sind beseelt von dem leidenschaftlichen Drange, verbunden 
zu bleiben oder Verbindung wieder zu gewinnen mit den 
Menschen als Menschen. 

Welche Erleichterung würde es bedeuten, wenn die Sieger 
nicht Menschen wie wir, sondern selbstlose Weltregenten 
wären. Dann würden sie in weiser Voraussicht den glück¬ 
lichen Wiederaufbau einschließlich einer wirkungsvollen 
Wiedergutmachung lenken. Dann würden sie uns durch Tat 
und Vorbild das Ideal demokratischer Zustände Vorleben 
und es uns täglich als überzeugende Wirklichkeit fühlen 
lassen. Dann würden sie unter sich einig sein in vernünf- 


85 



tiger, offener, von Hintergedanken freier Aussprache und 
würden schnell alle auftauchenden Fragen sinnvoll zur 
Entscheidung bringen. Dann würde keine Täuschung mög¬ 
lich sein und keine Scheinhaftigkeit, kein Verschweigen und 
kein Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Re¬ 
den. Dann würde eine treffliche Erziehung unserem Volk 
zuteil werden, würden wir zu lebendigster Entwicklung un¬ 
seres Denkens in der gesamten Bevölkerung kommen und 
uns die gehaltvollste Überlieferung zu eigen machen. Dann 
würden wir streng, aber auch gerecht und auch gütig, ja 
liebevoll behandelt werden, sofern nur das leiseste Ent¬ 
gegenkommen seitens der Unglücklichen und Irregeleiteten 
stattfindet. 

Aber die anderen sind Menschen wie wir. Und in ihrer 
Hand liegt die Zukunft der Menschheit. Wir sind als Men¬ 
schen mit unserem ganzen Dasein und den Möglichkeiten 
unseres Wesens gebunden an das, was sie tun, und an die 
Folgen ihres Handelns. Darum ist es für uns wie eine eigene 
Sache, zu erspüren, was sie wollen, denken und tun. 

Wir fragen uns aus dieser Sorge heraus: Sind die anderen 
Völker vielleicht glücklicher auch durch günstigere poli¬ 
tische Schicksale? Machen sie vielleicht dieselben Fehler 
wie wir, aber ohne daß bisher die verhängnisvollen Folgen 
eingetreten sind, die uns in den Abgrund brachten? 

Sie würden es ablehnen, von uns, den Verderbten und 
Unglückseligen, Warnungen zu erhalten. Sie würden viel¬ 
leicht nicht verstehen und es gar anmaßend finden, wenn 
Deutsche sich Sorgen um den Gang der Geschichte machen, 
der bei ihnen und nicht bei den Deutschen liegt. Aber es 
ist so: wie ein Alp liegt auf uns die Vorstellung: Kommt in 
Amerika einst eine Diktatur im Stile Hitlers, so ist ein Ende, 
das für unabsehbare Zeiten hoffnungslos wäre. Wir in 
Deutschland konnten befreit werden von außen. Wenn ein¬ 
mal die Diktatur da ist, so ist eine Befreiung von innen 
heraus unmöglich. Wird die angelsächsische Welt wie früher 
wir von innen heraus diktatorisch erobert, dann gibt es 
kein außen mehr, dann gibt es keine Befreiung. Die Frei¬ 
heit, die von Menschen im Abendlande errungen wurde, 
und deren Erringen Sache von Jahrhunderten, ja Jahr¬ 
tausenden war, wäre vorbei. Es wäre wieder die Primitivität 
des Despotismus da, aber mit technischen Mitteln. Wohl 


86 



kann der Mensch nicht endgültig unfrei werden. Aber dieser 
Trost wird dann einer auf sehr lange Sicht. Mit Plato: im 
Gang der unendlichen Zeit wird hier oder dort einmal wirk¬ 
lich oder wieder wirklich, was möglich ist. Wir sehen mit 
Schrecken die Gefühle der moralischen Überlegenheit: wer 
sich der Gefahr gegenüber absolut sicher fühlt, ist schon 
auf dem Wege, ihr zu verfallen. Deutschlands Schicksal 
wäre eine Erfahrung für alle. Möchte diese Erfahrung ver¬ 
standen werden! Wir sind keine schlechtere Rasse. Überall 
haben Menschen die ähnlichen Eigenschaften. Überall gibt 
es die gewaltsamen, verbrecherischen, vital tüchtigen Mino¬ 
ritäten, die bei Gelegenheit das Regime ergreifen und brutal 
verfahren. 

Uns kann wohl Sorge befallen wegen der Selbstsicher¬ 
heit der Sieger. Denn von nun an liegt alle entscheidende 
Verantwortung für den Gang der Dinge bei ihnen. Ihre 
Sache ist, wie sie Unheil verhüten oder neues Unheil her¬ 
aufbeschwören. Was nunmehr ihre Schuld werden könnte, 
das wäre das gleiche Unheil für uns wie für sie. Sie müssen 
jetzt, wo es um das Ganze der Menschheit geht, gesteigert 
verantworten, was sie tun. Reißt die Kette des Bösen nicht 
ab, so geraten die Sieger in dieselbe Lage, wie wir, mit ihnen 
aber die gesamte Menschheit. Die Kurzsichtigkeit mensch¬ 
lichen Denkens, zumal in Gestalt der jeweils wie eine un¬ 
widerstehliche Welle alles überschwemmende Weltmeinung 
ist eine ungeheure Gefahr. Die Werkzeuge Gottes sind nicht 
Gott auf Erden. Böses mit Bösem vergelten, zumal an den 
Zuchthausinsassen, nicht nur an den Zuchthausverwaltern, 
würde böse machen und neues Unheil zeugen. 

Wenn wir unsere eigene Schuld bis in ihren Ursprung 
verfolgen, so stoßen wir auf das Menschsein, das in deut¬ 
scher Gestalt ein eigentümliches, furchtbares Schuldig¬ 
werden angenommen hat, aber Möglichkeit im Menschen 
als Menschen ist. 

Es wird wohl gesagt, wenn von deutscher Schuld die 
Rede ist: es ist aller Schuld - das verborgene Böse überall 
ist mitschuldig an dem Ausbruch des Bösen an dieser deut¬ 
schen Stelle. 

Es wäre in der Tat ein Ausweichen und eine falsche Ent¬ 
schuldigung, wenn wir Deutsche unsere Schuld durch den 
Bezug auf die Schuld des Menschseins mildern wollten. 


87 



Nicht Erleichterung, sondern Vertiefung kann der Gedanke 
bringen. Die Frage der Erbsünde darf nicht zu einem Wege 
des Ausweichens vor der deutschen Schuld werden. Das 
Wissen um die Erbsünde ist noch nicht Einsicht in die deut¬ 
sche Schuld. Aber es darf auch nicht das religiöse Bekennt¬ 
nis der Erbsünde zum Kleide eines falschen kollektiven 
deutschen Schuldbekenntnisses werden, so daß in unred¬ 
licher Unklarheit das eine für das andere steht. 

Wir haben keinen Drang, die anderen zu beschuldigen, 
wir wollen sie nicht hineinreißen und nicht gleichsam an¬ 
stecken. Aber im Abstand der Sorge dessen, der hinein¬ 
geraten ist, und der zu sich kommt und sich besinnt, denken 
wir: möchten die anderen doch solche Wege nicht gehen, - 
möchten wir uns doch, sofern wir guten Willens sind, auf sie 
verlassen dürfen. 

Jetzt hat eine neue Periode der Geschichte begonnen. 
Nunmehr haben für das, was geschieht, die Siegermächte 
die Verantwortung. 


88 



III. Unsere Reinigung 


Die Selbstdurchhellung als Volk in geschichtlicher Be¬ 
sinnung und die persönliche Selbstdurchhellung des einzel¬ 
nen scheint zweierlei. Doch geschieht das erstere nur auf 
dem Wege über das zweite. Was einzelne miteinander in 
Kommunikation vollziehen, kann, wenn es wahr ist, zum ver¬ 
breiteten Bewußtsein vieler werden und gilt dann als Selbst¬ 
bewußtsein eines Volkes. 

Auch hier müssen wir gegen das Kollektivdenken als ein 
Denken in Fiktionen uns wenden. Alle wirkliche Verwand¬ 
lung geschieht durch einzelne, im Einzelnen, in zahlreichen 
Einzelnen, unabhängig voneinander oder in bewegendem 
Austausch. 

Wir Deutsche besinnen uns alle, wenn auch in noch so 
verschiedener, ja entgegengesetzterweise, auf unsere Schuld 
und Nichtschuld. Wir alle tun es, Nationalsozialisten und 
Gegner des Nationalsozialismus. Wenn ich »wir« sage, so 
meine ich die Menschen, mit denen ich mich zunächst - 
durch Sprache, Herkunft, Situation, Schicksal - solida¬ 
risch weiß. Ich will niemanden anklagen, wenn ich »wir« 
sage. Wenn andere Deutsche sich schuldlos fühlen, so ist 
das ihre Sache, außer in den zwei Punkten der Strafe für 
Verbrechen derer, die sie getan haben, und der politischen 
Haftung aller für die Handlungen des Hitlerstaates. Die 
sich schuldlos fühlen, werden Gegenstand des Angriffs erst, 
wenn sie ihrerseits angreifen. Wenn sie, sich selber für 
schuldlos haltend, anderen Schuld geben, so ist zwar immer 
zu fragen, ob sie in der Sache etwas Richtiges treffen, aber 
auch ob sie ein Recht haben hier Ankläger zu sein. Wenn 
sie aber in Fortsetzung nationalsozialistischer Denkungsart 
uns das Deutschtum absprechen wollen, und wenn sie, statt 
eindringend nachzudenken und auf Gründe zu hören, viel¬ 
mehr blind mit Generalurteilen andere vernichten wollen, 
so brechen sie die Solidarität, wollen nicht im Miteinander¬ 
reden sich prüfen und entwickeln. Sie sind wegen der Art 
ihres Angreifens der Verletzung der Menschenrechte zu 
beschuldigen. 

In der Bevölkerung ist eine natürliche, unpathetische, 
besonnene Einsicht nicht selten. Beispiele schlichter Äuße¬ 
rungen sind folgende: 



Ein achtzigjähriger Forscher: »Ich habe in diesen 12 Jah¬ 
ren nie geschwankt und doch war ich nie mit mir zufrieden; 
immer wieder habe ich gegrübelt, ob man nicht aus dem 
rein passiven Widerstand gegen die Nazis zur Tat über¬ 
gehen könne. Die Organisation Hitlers war zu teuflisch.« 

Ein jüngerer Antinazi: »Denn auch wir Gegner des Na¬ 
tionalsozialismus haben - nachdem wir uns jahrelang, wenn 
auch zähneknirschend dem ‘Regime mit der Furcht’ ge¬ 
beugt haben - eine Reinigung nötig. Wir rücken dabei ab 
von dem Pharisäertum derer, die glauben, daß allein das 
Fehlen des Parteiabzeichens sie zu erstklassigen Menschen 
macht.« 

Ein Beamter während der Denazifikation: »Wenn ich 
mich in die Partei pressen ließ, wenn ich es mir relativ gut 
gehen ließ, mich im Nazistaat einrichtete und insofern Nutz¬ 
nießer wurde - wenn ich es auch in innerer Gegnerschaft 
tat, - und wenn ich nun die Nachteile dessen erfahre, so darf 
ich mich anständigerweise nicht beklagen.« 

Daß wir in der Schuldfrage von Reinigung sprechen, hat 
einen guten Sinn. Reinigen müssen wir uns von der Schuld, 
wie sie ein jeder in sich findet, soweit das möglich, ist durch 
Wiedergutmachung, durch Buße, durch innere Erneuerung 
und Verwandlung. Davon soll später die Rede sein. 

Vorher werfen wir einen Blick auf einige der Tendenzen, 
die uns verführen, der Reinigung auszuweichen. In Ver¬ 
lockungen durch falsche Antriebe und Instinkte verlassen 
wir nicht nur den Weg der möglichen Reinigung, sondern 
steigern noch die Verworrenheit in unreinen Motivationen. 

§ 1. AUSWEICHEN VOR DER REINIGUNG 

a) Das gegenseitige Sichbeschuldigen 

Wir Deutsche sind untereinander sehr verschieden durch 
Art und Maß der Teilnahme am Nationalsozialismus oder 
des Widerstandes gegen ihn. Ein jeder hat auf seine eigene 
innere und äußere Verhaltensweise sich zu besinnen und 
sich die ihm eigentümliche Wiedergeburt in dieser Krise des 
Deutschen zu suchen. 

Auch der Zeitpunkt, zu dem diese innere Umschmelzung 
begann, ist für die einzelnen sehr verschieden, ob 1933, ob 
1934 nach den Morden des 30. Juni, ob seit 1938 nach den 
Synagogenbrandstiftungen oder erst im Kriege, oder erst 


90 



unter der drohenden Niederlage oder erst im Zusammen¬ 
bruch. 

Wir können uns Deutsche in allem diesen nicht auf einen 
Nenner bringen. Wir müssen von wesensverschiedenen Aus¬ 
gangspunkten her zueinander aufgeschlossen sein. Der ge¬ 
meinsame Nenner ist vielleicht allein die Staatsangehörig¬ 
keit. Darin haben alle gemeinsam die Schuld und die Haf¬ 
tung, daß sie es zu 1933 haben kommen lassen, ohne zu 
sterben. Das vereint auch die äußere und die innere Emi¬ 
gration. 

Die großen Verschiedenheiten ermöglichen es, daß an¬ 
scheinend ungefähr alle allen Vorwürfe machen. Das hält 
so lange an als der einzelne nur seine eigene Lage und derer, 
die ihm ähnlich sind, wirklich ins Auge faßt und die der an¬ 
deren nur durch Bezug auf sich beurteilt. Es ist erstaunlich, 
wie sehr wir nur bei Selbstbetroffenheit in wirkliche Er¬ 
regung geraten und alles aus dem Gesichtswinkel unserer 
besonderen Lage sehen. Es bedarf der ständigen bewußten 
Anstrengung, sich aus diesem Gesichtswinkel zu befreien. 

Das Sichbeschuldigen der gegenwärtigen deutschen Men¬ 
schen darzustellen, würde zu einer endlosen Erörterung 
führen. Nur durch zufällige Beispiele aus der nahen Ver¬ 
gangenheit und aus der Gegenwart sei auf dies Feld hin¬ 
gewiesen. Wir können wohl einmal verzagen, wenn uns die 
Geduld im Miteinanderreden zu verlassen droht, und wenn 
wir auf kaltschnäuzige und brüske Ablehnung stoßen. 

In vergangenen Jahren gab es Deutsche, die von uns ande¬ 
ren Deutschen verlangten, Märtyrer zu werden. Wir sollten es 
nicht stillschweigend dulden, was geschah. Wenn unser Tun 
keinen Erfolg haben sollte, so wäre die Tat doch wie ein 
sittlicher Halt für die ganze Bevölkerung, ein sichtbares 
Symbol der unterdrückten Kräfte. So konnte ich seit 1933 
Vorwürfe hören von Freunden, Männern und Frauen. 

Solche Forderungen waren so erregend, weil in ihnen tiefe 
Wahrheit liegt, die aber durch die Weise, wie sie vertreten 
wird, kränkend verkehrt ist. Was der Mensch mit sich selbst 
vor der Transzendenz erfahren kann, wird in die Ebene des 
Moralisierens und gar der Sensation gezogen. Stille und 
Ehrfurcht sind verloren. 

Gegenwärtig ist ein schlimmes Beispiel des Ausweichens 
in das gegenseitige Sichbeschuldigen manche Diskussion 


91 



zwischen Emigranten und Hiergebliebenen, zwischen den 
Gruppen, die man wohl äußere und innere Emigration 
nennt. Beide haben ihr Leid. Der Emigrant: Die fremde 
Sprachwelt, das Heimweh, - Symbol ist die Erzählung von 
dem deutschen Juden in New York, in dessen Zimmer das 
Bild Hitlers hing, - warum? nur wenn er dadurch jeden Tag 
an den Schrecken erinnert werde, der ihn zu Hause erwarte, 
könne er seiner Sehnsucht in die Heimat Herr werden. - 
Der Daheimgebliebene: Die Verlassenheit, das Ausgesto¬ 
ßensein im eigenen Lande, die Bedrohung, allein in der Not, 
gemieden außer von einigen Freunden, die zu belasten wie¬ 
der neues eigenes Leid bringt. - Klagen aber die einen die 
andern an, so brauchen wir uns nur zu fragen: ist uns wohl 
zumute angesichts des Seelenzustandes und des Tones der 
so Anklagenden, freuen wir uns, daß solche Menschen so füh¬ 
len, sind sie Vorbild, ist etwas wie Aufschwung, Freiheit, 
Liebe in ihnen, die uns ermutigen? Wenn nicht, dann ist 
nicht wahr, was sie sagen. 

Im gegenseitigen Beschuldigen liegt kein wachsendes Le¬ 
ben. Das eigentliche Miteinanderreden hört auf. Es ist eine 
Weise des Kommunikationsabbruches. Und diese ist immer 
ein Symptom der Unwahrheit, daher Anlaß für die Red¬ 
lichen, unablässig nach der verborgenen Unwahrheit zu 
forschen. Diese ist überall da, wo der Deutsche sich mora¬ 
lisch und metaphysisch zum Richter über den Deutschen 
macht, überall wo kein guter Wille zur Kommunikation, 
sondern der verschleierte Wille zum Zwang herrscht, wo das 
Verlangen besteht, der andere solle sich schuldig bekennen, 
wo der Hochmut - »ich bin unbelastet« - auf den anderen 
herabsieht, wo das Bewußtsein der Schuldlosigkeit sich be¬ 
rechtigt weiß, anderen Schuld zu geben. 


b) Sichwegwerfen und Trotz 

Unsere menschliche Artung - wenigstens in Europa - 
ist derart, daß wir ebenso empfindlich gegen Vorwürfe sind 
wie leicht bereit, anderen Vorwürfe zu machen. Man will 
sich nicht zu nahe treten lassen, aber man ereifert sich leicht 
im moralischen Beurteilen der anderen. Das ist die Folge 
der Vergiftung durch den Moralismus. Für nichts pflegen 
wir so reizbar zu sein wie für jede Andeutung, daß man uns 
Schuld gibt. Auch wer Schuld hat, will es sich nicht sagen 


92 



lassen. Und wenn er es sich sagen läßt, will er es sich nicht 
von jedem sagen lassen. Je größer die Empfindlichkeit ge¬ 
gen Vorwürfe ist, desto größer pflegt die Rücksichtslosig¬ 
keit zu sein, mit der man bereit ist, sie anderen zu machen. 
Die Welt ist bis in die kleinen Alltagsumstände hinein voll 
von Bezichtigungen für die Urheberschaft eines Unheils, 
daher voll von Sündenböcken, die man überall für diese 
bösen Instinkte braucht. 

Wer reizbar gegen Vorwürfe ist, kann nun merkwürdiger¬ 
weise leicht Umschlägen in einen Drang, seine Schuld zu be¬ 
kennen. Solche Schuldbekenntnisse - falsch, weil selber 
noch triebhaft und lusterfüllt - haben in ihrer Erscheinung 
einen unverkennbaren Zug: Da sie wie ihr Gegenteil beim 
selben Menschen aus dem gleichen Machtwillen genährt 
sind, spürt man, wie der Bekennende sich durch das Be¬ 
kenntnis einen Wert geben, sich vor anderen hervortun 
will. Sein Schuldbekenntnis will andere zum Bekennen 
zwingen. Es ist ein Zug von Aggressivität in solchem Be¬ 
kennen. Der Moralismus als Erscheinung des Machtwillens 
nährt sowohl die Reizbarkeit gegen Vorwürfe wie die Schuld¬ 
bekenntnisse, die Vorwürfe gegen andere wie gegen sich selbst 
und läßt psychologisch alles dies ineinander Umschlägen. 

Philosophisch ist daher bei jeder Beschäftigung mit 
Schuldfragen die erste Forderung das innere Handeln 
mit sich selbst, durch das die Empfindlichkeit zugleich 
mit dem Schuldbekenntnisdrang erlischt. 

Heute nun ist dies allgemeinmenschliche Phaenomen, 
das ich psychologisch schilderte, unlösbar verflochten mit 
dem Ernst unserer deutschen Frage. Unsere Gefahr ist ein 
doppelter Irrweg: das sich preisgebende Jammern im Schuld¬ 
bekenntnis und der sich trotzig abschließende Stolz. 

Mancher läßt sich verführen durch sein augenblickliches 
Daseinsinteresse. Es scheint ihm vorteilhaft, die Schuld zu 
bekennen. Der Entrüstung der Welt über das moralisch 
verworfene Deutschland entspricht seine Bereitwilligkeit 
zum Schuldbekenntnis. Dem Mächtigen begegnet man durch 
Schmeichelei. Man möchte sagen, was er zu hören wünscht. 
Dazu kommt die fatale Neigung, durch Schuldbekenntnis 
sich besser zu dünken als andere. In der Demut ist verbor¬ 
gen der böse Stolz auf sich selber. Im Sichselbstbloßstellen 
liegt ein Angriff auf die anderen, die es nicht tun. Die 


93 



Schmählichkeit solcher billigen Selbstanklagen, die Ehr¬ 
losigkeit der vermeintlich vorteilhaften Schmeichelei ist 
offenbar. Hier spielen die Machtinstinkte der Ohnmächti¬ 
gen und der Mächtigen verhängnisvoll ineinander. 

Anders der trotzige Stolz. Gerade weil die anderen mo¬ 
ralisch angreifen, verstockt man sich erst recht. Man will 
sein Selbstbewußtsein in einer vermeinten inneren Unab¬ 
hängigkeit. Diese ist aber dann nicht zu gewinnen, wenn 
man im Entscheidenden unklar bleibt. 

Das Entscheidende liegt in dem ewigen Grundphaeno- 
men, das heute in neuer Gestalt wieder da ist: Wer in der 
Lage restlosen Besiegtseins das Leben dem Tode vorzieht, 
kann in Wahrhaftigkeit - der einzigen ihm bleibenden 
Würde - nur leben, wenn er den Entschluß zu diesem Le¬ 
ben faßt mit dem Bewußtsein des Sinnes, der in ihm liegt. 
Was Hegel in seiner Phaenomenologie in dem großartigen 
Abschnitt über Herr und Knecht gezeigt hat, ist das Un¬ 
ausweichliche, um das sich das menschliche Bewußtsein in 
Unklarheit herumdrücken möchte: 

Der Entschluß, als Ohnmächtiger und Knecht leben zu 
wollen, ist ein Akt von lebenbegründendem Ernst. Aus ihm 
folgt eine Verwandlung, die alle Wertschätzungen modifi¬ 
ziert. Wird er vollzogen, werden die Folgen übernommen, 
Leid und Arbeit ergriffen, so liegt hier die höchste Möglich¬ 
keit der menschlichen Seele. In Hegels Entwicklung trägt 
der Knecht, nicht der Herr die geistige Zukunft. Aber nur 
dann, wenn er redlich seinen schweren Weg geht. Nichts 
wird geschenkt. Nichts kommt von selbst. Nur wenn dieser 
Entschluß als Ursprung klar ist, können die Verkehrungen 
des Sichwegwerfens und des stolzen Trotzes vermieden wer¬ 
den. Die Reinigung führt zur Klarheit des Entschlusses 
und zur Klarheit seiner Folgen. 

Wenn nun mit dem Besiegtsein zugleich eine Schuld da 
ist, so wird die Lage seelisch verwickelter. Nicht nur die 
Ohnmacht, auch die Schuld muß übernommen werden. Und 
aus beidem muß die Umschmelzung erwachsen, der der 
Mensch sich entziehen möchte. 

Der stolze Trotz findet eine Menge von Anschauungs¬ 
weisen, Großartigkeiten, gefühlvollen Erbaulichkeiten, um 
sich die Täuschung zu verschaffen, die es ermöglicht, ihn 
festzuhalten. Zum Beispiel: 


94 



Man verwandelt den Sinn der Notwendigkeit, das Ge¬ 
schehene zu übernehmen. Eine wilde Neigung, »sich zu un¬ 
serer Geschichte zu bekennen«, erlaubt es, das Böse ver¬ 
borgen zu bejahen, am Bösen das Gute zu finden, es im In¬ 
nern als stolze Festung gegen die Sieger zu halten. Aus sol¬ 
cher Verkehrung sind Sätze möglich wie die folgenden: »Wir 
müssen wissen, daß wir die ursprüngliche Kraft des Wol- 
lens, das die Vergangenheit schuf, noch in uns tragen, und 
wir müssen uns auch dazu bekennen und es aufnehmen in 
unsere Existenz ... Wir sind beides gewesen und werden 
beides bleiben ... und wir selbst sind immer nur unsere 
ganze Geschichte, deren Kraft wir in uns tragen.« »Die 
Pietät« soll die junge Generation von Deutschland zwin¬ 
gen, wieder zu werden, wie die vorige war. 

Trotz im Gewand von Pietät verwechselt hier den ge¬ 
schichtlichen Grund, in dem wir liebend wurzeln, mit der 
Gesamtheit der Realitäten der gemeinsamen Vergangen¬ 
heit, von denen wir viele in ihrem Sinne nicht nur nicht lie¬ 
ben, sondern als uns wesensfremd abstoßen. 

In der Anerkennung des Bösen als Bösen können dann 
in verwunderlichen Unklarheiten des Gefühls Sätze mög¬ 
lich werden wie folgende: »Wir müssen so mutig und so 
groß und so milde werden, daß wir sagen können: Ja, auch 
dieses Fürchterliche war unsere Wirklichkeit und wird es 
bleiben, aber wir haben die Kraft, es dennoch in uns umzu¬ 
schaffen zu schöpferischem Werk. Wir kennen eine furcht¬ 
bare Möglichkeit in uns, die einmal in jammervoller Ver¬ 
irrung Gestalt gewann. Wir lieben und achten unsere ganze 
geschichtliche Vergangenheit mit einer Pietät und einer 
Liebe, die größer ist als alle einzelne geschichtliche Schuld. 
Wir tragen diesen Vulkan in uns mit dem Wagnis des Wis¬ 
sens, daß er uns zersprengen kann, aber mit der Überzeu¬ 
gung, daß, wenn wir ihn zu bändigen vermögen, uns der 
letzte Raum unserer Freiheit erst offen werden wird: in der 
gefährlichen Kraft solcher Möglichkeit das wirklich werden 
zu lassen, was in der Gemeinsamkeit mit allen übrigen die 
menschheitliche Tat unseres Geistes sein wird.« 

Das ist ein verführender Appell - aus der schlechten 
Philosophie eines Irrationalismus -, ohne Entscheidung 
sich einer existentiellen Nivellierung anzuvertrauen. »Bän¬ 
digen« ist viel zu wenig. Auf die »Wahl« kommt es an. Es 


95 



ist, wenn sie nicht vollzogen wird, sogleich wieder ein Trotz 
des Bösen möglich, der zum pecca fortiter führen muß. Es 
ist verkannt, daß in diesem Appell an Pietät noch in bezug 
auf das Böse, das zu verneinen ist, doch nur eine scheinhafte 
Gemeinschaft möglich ist. 

Eine andere Weise stolzen Trotzes kann den ganzen Na¬ 
tionalsozialismus »geschichtsphilosophisch« bejahen in einer 
ästhetischen Anschauung, die aus dem nüchtern anzusehen¬ 
den Unheil und aus dem klaren Bösen eine falsche Großar¬ 
tigkeit macht, welche das Gemüt vernebelt: 

»Im Frühjahr 1932 hat ein deutscher Philosoph die Pro¬ 
phezeiung ausgesprochen, daß binnen 10 Jahren die Welt 
nur noch von zwei Polen aus politisch regiert werden wird: 
Moskau und Washington; daß Deutschland dazwischen als 
politisch-geographischer Begriff gegenstandslos sein und nur 
noch als geistige Macht existieren wird. 

Die deutsche Geschichte, für die die Niederlage von 1918 
zugleich Aussichten auf größere Konsolidierung, ja auf die 
großdeutsche Vollendung freilegte, lehnte sich auf gegen 
jene prophezeite und in der Tat aufkommende Tendenz, die 
Welt auf zwei Pole hin zu simplifizieren. Die deutsche Ge¬ 
schichte zog sich gegen diese Welttendenz zu einer isolierten 
eigenwilligen, gigantischen Anstrengung zusammen, doch 
noch zu ihrem eigenen nationalen Ziel zu kommen. 

Wenn jene Prophezeiung des deutschen Philosophen, 
die für den Anbruch der Amerikanisch-Russischen Welt¬ 
herrschaft eine Frist von nur 10 Jahren ansetzte, Recht 
hatte, so war das überstürzte Tempo, die Hast und Gewalt¬ 
samkeit des deutschen Gegenversuchs ein verständliches 
Ereignis: es war das Tempo einer innerlich sinnvollen und 
faszinierenden, historisch aber schon verspäteten Aufleh¬ 
nung. Wir haben in den vergangenen Monaten mitange¬ 
sehen, wie sich dieses Tempo am Ende in isolierte reine Ra¬ 
serei überschlug. - Ein Philosoph spricht leichthin das Ur¬ 
teil aus: die deutsche Geschichte ist zu Ende, jetzt beginnt 
die Ära Washington-Moskau. Eine so groß und sehnsüch¬ 
tig angelegte Geschichte wie die deutsche sagt nicht 
einfach Ja und Amen zu solchem akademischen Beschluß. 
Sie flammt auf, sie stürzt sich in tief erregtem Wehren 
und Angriff, in wildem Tumult von Glauben und Haß in 
ihr Ende.« 


96 



So schrieb im Sommer 1945 ein von mir menschlich hoch- 
geschätzter junger Mann in Verwirrung trüber Gefühle. 

Alles das ist in der Tat keine Reinigung, sondern ein wei¬ 
teres Hineingeraten in die Verstrickung. Solche Gedanken - 
sowohl des Sichwegwerfens wie des Trotzes - pflegen einen 
Augenblick ein Gefühl wie von Befreiung zu geben. Man 
glaubt einen Boden zu haben, und man ist doch erst recht 
ins Ausweglose gegangen. Es ist die Unreinheit der Gefühle, 
die sich hier steigert und zugleich befestigt gegen echte Ver¬ 
wandlungsmöglichkeiten. - 

Zu allen Weisen des Trotzes gehört ein aggressives Schwei¬ 
gen. Man entzieht sich, wo die Gründe unwiderleglich wer¬ 
den. Man zieht sein Selbstbewußtsein aus dem Schweigen 
als der letzten Macht des Ohnmächtigen. Man zeigt das 
Schweigen, um den Mächtigen zu kränken. Man verbirgt 
das Schweigen, um auf Wiederherstellung zu sinnen, poli¬ 
tisch durch Ergreifen von Machtmitteln, wenn diese auch 
lächerlich wären für solche, die nicht teilhaben an den Rie¬ 
senindustrien der Welt, welche die Werkzeuge der Zerstö¬ 
rung hervorbringen, - seelisch durch Selbstrechtfertigung, 
die keine Schuld anerkennt: das Schicksal hat gegen mich 
entschieden; es war eine sinnlose materielle Übermacht; die 
Niederlage war ehrenvoll; ich nähre im Innern meine Treue 
und mein Heldentum. Auf dem Wege solchen Verhaltens 
mehrt sich aber nur das innere Gift im illusionären Denken 
und vorwegnehmenden Sichberauschen: »noch nicht mit 
Faustschlägen und Fußtritten« ... »für jenen Tag, da wir ..« 


c) Ausweichen in an sich richtige aber für die Schuldfrage 
unwesentliche Besonderheiten 

Es ist ein Ausweichen vor der Schuldfrage, wenn man 
vom Wesentlichen abgleitet in an sich richtiges Einzelnes, 
als ob dieses das Ganze wäre, oder wenn man geflissentlich 
Fehler der anderen sucht und auch in der Tat findet. Die 
geduldige Mühe um das Vernünftige erlaubt in geeignetem 
Zusammenhang auch das Vorbringen von Tatsachen und 
Zusammenhängen an den Sieger. Jetzt, wo im Ganzen der 
Geschichte nicht mehr wir Deutsche handeln, sehen wir auf 
das, was getan und was nicht getan wird, als auf das, wovon 
auch unser Schicksal abhängt. 

Aber so richtig diese Gedankengänge sind, sie dürfen nicht 


97 



dazu dienen, die Schuldfrage zu ersetzen oder auszulöschen. 

Das begreiflichste Ausweichen geschieht durch den Blick 
auf eigene Not. Mancher denkt: Helft, aber redet nicht von 
Buße. Die ungeheure Not entschuldigt. Wir hören etwa: 

»Ist der Bombenterror vergessen? Sollte er, unter dem 
Millionen Unschuldiger Leben, Gesundheit und die ganze 
liebe Habe hergeben mußten, nicht ein Ausgleich sein für 
das, was im deutschen Land verbrochen wurde? Sollte das 
Elend der Flüchtlinge, das zum Himmel schreit, nicht ent¬ 
waffnend wirken?« 

»Ich bin Südtirolerin, kam als blutjunge Frau vor 30 Jah¬ 
ren nach Deutschland. Das deutsche Leid habe ich vom er¬ 
sten bis zum letzten Tag geteilt, habe Schlag auf Schlag 
empfangen, Opfer über Opfer gebracht, habe den bitteren 
Kelch bis zur Neige gelehrt - und fühle mich nun mit an¬ 
geklagt für etwas, was ich gar nicht begangen habe.« 

»Das Elend, das über das ganze Volk gekommen ist, ist 
so riesengroß und nimmt so unvorstellbare Maße an, daß 
man nicht noch Salz in die Wunde streuen soll. Das Volk 
hat bereits in seinen bestimmt unschuldigen Teilen mehr 
gelitten als vielleicht eine gerechte Sühne erfordert.« 

In der Tat ist das Unheil apokalyptisch. Alle klagen, und 
mit Recht: Die dem KZ entronnen sind oder der Verfol¬ 
gung und die sich des grauenhaften Leidens erinnern. Die 
ihre Liebsten auf grausamste Weise verloren haben. Die 
Millionen Evakuierter und Flüchtlinge, die auf der Wan¬ 
derschaft ohne Hoffnung leben. Die vielen Mitläufer der 
Partei, die nun ausgeschieden werden und in Not geraten. 
Die Amerikaner und die anderen Alliierten, die Jahre ihres 
Lebens drangaben und Millionen Tote hatten. Die europäi¬ 
schen Völker, die unter der Terrorherrschaft der national¬ 
sozialistischen Deutschen gepeinigt wurden. Die deutschen 
Emigranten, die in fremder Sprachumgebung unter schwie¬ 
rigsten Umständen leben müssen. Alle, alle. 

Die Klagen werden überall zu Anklagen. Aber gegen wen? 
Schließlich aller gegen alle. 

In diesem furchtbaren Weltzustand, der zur Zeit die Not 
in Deutschland zur vergleichsweise größten macht, darf 
man den Zusammenhang des Ganzen nicht vergessen. Die 
Schuldfrage weist immer wieder darauf hin. 

In der Aufzählung der Klagenden habe ich die mannig- 



fachen Gruppen nebeneinandergestellt in der Absicht, man 
möge sogleich das Ungemäße darin fühlen. Die Not ist als 
Not, als Daseinszerstörung wohl einer Art, aber sie ist we¬ 
sensverschieden durch den Zusammenhang, in dem sie steht 
und durch die Stelle in ihm, der sie zugehört. Es ist unge¬ 
recht, alle auf gleiche Weise für unschuldig zu erklären. 

Im Ganzen bleibt bestehen, daß wir Deutschen, so sehr 
wir jetzt in die größte Not unter den Völkern geraten sind, 
auch für den Gang der Dinge bis 1945 die größte Verant¬ 
wortung tragen. 

Daher gilt für uns, für den einzelnen: wir wollen nicht 
so leicht uns unschuldig fühlen, uns nicht bemitleiden als 
Opfer eines Verhängnisses, wollen nicht Belobigung erwar¬ 
ten für Leiden, sondern uns selbst fragen, uns unerbittlich 
durchleuchten: wo habe ich falsch gefühlt, falsch gedacht, 
falsch gehandelt - wollen die Schuld möglichst weitgehend 
bei uns suchen und nicht in den Dingen und nicht bei den 
andern, wollen nicht ausweichen in die Not. Das folgt aus 
dem Entschluß zur Umkehr, zum täglichen Besserwerden. 
Dort stehen wir als einzelne vor Gott, nicht mehr als Deut¬ 
sche, nicht als Kollektiv. 


d) Ausweichen in ein Allgemeines 

Es ist eine Erleichterung, wenn ich selber als einzelner 
unwichtig werde, weil das Ganze ein Geschehen ist, das über 
mich kommt, an dem ich aber keine Mitwirkung und daher 
persönlich keine Schuld habe. Dann lebe ich in der Anschau¬ 
ung des Ganzen, bin selber nur ohnmächtig erleidend oder 
ohnmächtig teilnehmend. Ich lebe nicht mehr aus mir 
selbst. Dafür einige Beispiele: 

1. Die moralische Gesamtinterpretation der Geschichte 
läßt eine Gerechtigkeit im Ganzen erwarten: »alle Schuld 
rächt sich auf Erden«. 

Ich weiß mich ausgeliefert einer Totalschuld, bei der mein 
eigenes Tun kaum noch eine Rolle spielt. Bin ich der Ver¬ 
lierende, so ist die metaphysische Ausweglosigkeit im Gan¬ 
zen niederschlagend. Bin ich der Gewinnende, so habe ich 
zu meinem Erfolg auch noch das gute Gewissen des Besser¬ 
seins. Eine Tendenz, sich selber als einzelner nicht ernst 
zu nehmen, lähmt die sittlichen Antriebe. Der Stolz eines 
sich preisgebenden Schuldbekennens im einen Falle wird 


99 



ebenso wie der Stolz des moralischen Sieges im anderen 
Falle zum Ausweichen vor der eigentlich menschlichen Auf¬ 
gabe, die im je einzelnen liegt. 

Gegen diese Totalauffassung steht aber die Erfahrung. 
Der Gang der Dinge ist gar nicht eindeutig. Die Sonne 
scheint über Gerechten und Ungerechten. Die Verteilung 
des Glückes und die Sittlichkeit der Handlungen scheinen 
keinen gegenseitigen Zusammenhang zu haben. 

Es wäre aber ein entgegengesetztes falsches Totalurteil, 
umgekehrt zu sagen: es gibt keine Gerechtigkeit. 

Wohl überkommt in manchen Situationen angesichts der 
Zustände und Handlungen eines Staates das untilgbare Ge¬ 
fühl: »das kann nicht gut enden«, »das muß sich rächen«. Aber 
sobald dies Gefühl über die begreifbaren Reaktionen der Men¬ 
schen auf das Böse hinaus auf Gerechtigkeit vertraut, entsteht 
der Irrtum. Es ist keine Gewissheit. Das Gute und Wahre 
kommt nicht von selber. In den meisten Fällen bleibt die Wie¬ 
dergutmachung aus. Verderben und Rache trifft Schuldige 
wie Unschuldige. Der reinste Wille, die rückhaltlose Wahr¬ 
haftigkeit, der größte Mut können, wenn die Situation es ver¬ 
wehrt, erfolglos bleiben. Und manchen Passiven fällt durch 
die Tat anderer die günstige Situation ohne Verdienst zu. 

Das Bessermachen, die Sühne, die Schuld hegt zuletzt 
allein in der Persönlichkeit der einzelnen. Der Gedanke der 
Totalschuld und des Eingesponnenseins in einen Schuld- 
Sühne-Zusammenhang als Ganzem wird - trotz meta¬ 
physischer Wahrheit, die in ihm liegen mag - zur Verfüh¬ 
rung des Ausweichens für den einzelnen vor dem, was allein 
und ganz seine eigene Sache ist. 

2. Die Totalanschauung, daß schließlich alles in der Welt 
ans Ende kommt, daß nichts unternommen wird, das nicht 
am Ende scheitert, daß in allem der Keim des Verderbens 
liegt, läßt den Mißerfolg mit jedem anderen Mißerfolg auf 
die eine gemeinsame Ebene des Scheiterns gleiten. So wird 
er seines Gewichts beraubt in einer Abstraktion. 

3. Man gibt dem eigenen Unheil, das man als Folge der 
Schuld aller deutet, ein metaphysisches Gewicht durch die 
Auslegung zu einer neuen Einzigkeit: In der Katastrophe 
des Zeitalters ist Deutschland das stellvertretende Opfer. 
Es leidet für alle. An ihm kommt die Schuld aller zum Aus¬ 
bruch, und die Sühne für alle. 


100 



Das ist durch Anwendung von Gedanken des Deutero- 
jesaias und des Christentums eine falsche Pathetik, die 
wiederum abzieht von der nüchternen Aufgabe, zu tun, was 
wirklich in der eigenen Kraft liegt, d. h. von der Aufgabe 
des Bessermachens im Faßlichen und von der inneren Ver¬ 
wandlung. Es ist das Entgleiten ins »Ästhetische«, das durch 
seine Unverbindlichkeit abzieht von der Verwirklichung aus 
dem Kern des Selbstseins des einzelnen. Es ist ein Mittel, 
sich auf neuem Wege ein falsches kollektives Selbstwert¬ 
gefühl zu verschaffen. 

4. Eine Befreiung von der Schuld scheint es zu sein, 
wenn wir angesichts der ungeheuren Leiden, die über 
uns Deutsche gekommen sind, ausrufen: es ist abge¬ 
büßt. 

Hier ist zu unterscheiden: Eine Strafe wird abgebüßt, 
eine politische Haftung wird durch Friedensvertrag be¬ 
grenzt und damit zu einem Ende gebracht. In bezug auf 
diese beiden Punkte ist der Gedanke sinnvoll und richtig. 
Aber moralische und metaphysische Schuld, die allein vom 
einzelnen in seiner Gemeinschaft als die seine begriffen 
wird, werden ihrem Wesen nach nicht abgebüßt. Sie hören 
nicht auf. Wer sie trägt, tritt in einen sein Leben währenden 
Prozeß ein. 

Für uns Deutsche gilt hier die Alternative: Entweder 
wird das Übernehmen der Schuld, die die andere Welt 
nicht meint, die aber aus unserem Gewissen ständig wieder 
ausgesprochen wird, zu einem Grundzug unseres deutschen 
Selbstbewußtseins - und dann geht unsere Seele den Weg 
der Verwandlung; oder wir sinken ab in die Durchschnitt- 
lichkeit des gleichgültigen bloßen Lebens. Dann erwacht 
in unserer Mitte kein eigentliches Gottsuchen mehr; dann 
offenbart sich uns nicht mehr, was eigentlich Sein ist; dann 
hören wir nicht mehr den transzendenten Sinn unserer 
hohen Dichtung und Kunst und Musik und Philosophie; 
dann wird dies alles als Vergangenheit vielleicht zur Erin¬ 
nerung anderer Völker, denen noch sprechend bliebe, was 
einst Deutsche hervorbrachten und was Deutsche waren, 
aber nicht mehr sind. 

Ohne den Weg der Reinigung aus der Tiefe des Schuld¬ 
bewußtseins ist keine Wahrheit für den Deutschen zu ver¬ 
wirklichen. 


101 



§ 2. DER WEG DER REINIGUNG 

Reinigung bedeutet im Handeln zunächst Wiedergut¬ 
machung. 

Politisch heißt das, aus innerem Jasagen die Leistungen 
zu erfüllen, die in Rechtsform gebracht unter eigenen Ent¬ 
behrungen den von Hitlerdeutschland angegriffenen Völ¬ 
kern einen Teil des Zerstörten wiederherstellen. 

Voraussetzung solchen Leistens ist außer der Rechts¬ 
form, die eine gerechte Verteilung der Last bringt, Leben, 
Arbeitsfähigkeit und Arbeitsmöglichkeit. Es ist unausweich¬ 
lich, daß der politische Wiedergutmachungswille erlahmt, 
wenn politische Handlungen der Sieger diese Voraussetzun¬ 
gen zerstören. Denn dann wäre nicht Frieden mit dem Sinn 
der Wiedergutmachung, sondern fortgesetzter Krieg im 
Sinne einer weiteren Vernichtung. 

Wiedergutmachung ist jedoch noch mehr. Wer von der 
Schuld, an der er Teil hat, innerlich ergriffen ist, will helfen 
jedem, dem Unrecht geschah durch die Willkür des recht¬ 
losen Regimes. 

Es sind zwei verschiedene nicht zu verwechselnde Moti¬ 
vationen: Die Forderung zu helfen, wo Not ist, gleichgültig 
wodurch, einfach darum weil sie nahe ist und Hilfe ver¬ 
langt - und zweitens die Forderung, den durch das Hitler¬ 
regime Deportierten, Beraubten, Geplünderten, Gequälten, 
den Emigrierten ein besonderes Recht zuzugestehen. 

Beides ist voll berechtigt, aber in der Motivation liegt 
eine Verschiedenheit. Wo Schuld nicht gefühlt wird, ge¬ 
schieht sogleich eine Nivellierung aller Not auf gleiche 
Ebene. Eine Differenzierung der von Not Betroffenen ist 
notwendig, wo ich gut machen will, was ich mit verschuldet 
habe. 

Dieser Weg der Reinigung durch Wiedergutmachen ist 
unausweichlich. Aber Reinigung ist viel mehr. Auch die 
Wiedergutmachung wird ernstlich nur gewollt, und sie er¬ 
füllt ihren ethischen Sinn nur als Folge unserer reinigenden 
Umschmelzung. 

Klärung der Schuld ist zugleich Klärung unseres neuen 
Lebens und seiner Möglichkeiten. Aus ihr entspringt der 
Ernst und der Entschluß. 

Wo das geschieht, da ist das Leben nicht mehr einfach 
da zu unbefangenem heiteren Genuß. Das Glück des Da- 


102 



seins, wo es gewährt wird, in Zwischenaugenblicken, in 
Atempausen, mögen wir ergreifen, aber es erfüllt nicht das 
Dasein, sondern wird auf dem Hintergründe der Schwer¬ 
mut hingenommen als liebenswürdiger Zauber. Das Leben 
ist wesentlich nur noch erlaubt im Verzehrtwerden durch 
eine Aufgabe. 

Folge ist die Bescheidung. Im inneren Handeln vor der 
Transzendenz wird unsere menschliche Endlichkeit und Un- 
vollendbarkeit bewußt. Demut (humilitas) wird unser We¬ 
sen. 

Dann können wir ohne Macht willen im liebenden Kampfe 
die Erörterung des Wahren vollziehen und uns in ihm mit¬ 
einander verbinden. 

Dann können wir unaggressiv schweigen, - aus der 
Schlichtheit des Schweigens wird die Klarheit des Mitteil¬ 
baren hervorgehen. 

Dann kommt es nur noch auf Wahrheit an und Tätigkeit. 
Ohne List sind wir bereit, zu ertragen, was uns beschieden 
ist. Was auch geschieht, es bleibt, solange wir leben, die 
menschliche Aufgabe, die in der Welt unvollendbar ist. 

Reinigung ist der Weg des Menschen als Menschen. Die 
Reinigung über die Entfaltung des Schuldgedankens ist 
darin nur ein Moment. Reinigung geschieht nicht zuerst 
durch äußere Handlungen, nicht durch ein äußerliches Ab¬ 
machen, nicht durch Magie. Reinigung ist vielmehr ein in¬ 
nerlicher Vorgang, der nie erledigt, sondern anhaltendes 
Selbstwerden ist. Reinigung ist Sache unserer Freiheit. Im¬ 
mer wieder steht ein jeder vor der Wegscheide in das Rein¬ 
werden oder in das Trübe. 

Reinigung ist nicht dieselbe für alle. Jeder geht persön¬ 
lich seinen Weg. Der ist von niemand anderem vorwegzu¬ 
nehmen und nicht zu zeigen. Die allgemeinen Gedanken 
können nur aufmerksam machen, vielleicht erwecken. 

Fragen wir nun am Ende unserer Schulderörterungen, 
worin die Reinigung besteht, so ist über das Gesagte hinaus 
keine weitere konkrete Angabe zu machen. Wo etwas nicht 
als Zweck des verständigen Willens realisiert werden kann, 
sondern durch inneres Handeln als Verwandlung geschieht, 
da kann man nur die unbestimmten umgreifenden Wendun¬ 
gen wiederholen: Erhellung und Durchsichtigwerden im 
Aufschwung, - Liebe zum Menschen. 


103 



Was die Schuld angeht, so ist ein Weg das Durchdenken 
der vorgetragenen Gedanken. Sie müssen nicht nur mit dem 
Verstände abstrakt gedacht, sondern anschaulich vollzogen 
werden; sie müssen vergegenwärtigt, angeeignet oder ver¬ 
worfen werden mit dem eigenen Wesen. Dieser Vollzug und 
was darausfolgt ist Reinigung. Diese ist nicht am Ende noch 
ein Neues, Hinzukommendes. - 

Reinigung ist die Bedingung auch unserer politischen 
Freiheit. Denn erst aus dem Schuldbewußtsein entsteht das 
Bewußtsein der Solidarität und Mitverantwortung, ohne 
die die Freiheit nicht möglich ist. 

Politische Freiheit beginnt damit, daß in der Mehrheit 
des Volkes der einzelne sich für die Politik seines Gemein¬ 
wesens mit haftbar fühlt, - daß er nicht nur begehrt und 
schilt, - daß er vielmehr von sich verlangt, Realität zu 
sehen und nicht zu handeln aus dem in der Politik falsch 
angebrachten Glauben an ein irdisches Paradies, das nur 
aus bösem Willen und Dummheit der anderen nicht ver¬ 
wirklicht wurde, - daß er vielmehr weiß: Politik sucht in 
der konkreten Welt den je gangbaren Weg, geführt von dem 
Ideal des Menschseins als Freiheit. 

Kurz: Ohne Reinigung der Seele keine politische Frei¬ 
heit. - 

Wie weit wir mit der inneren Reinigung auf dem Grunde 
des Schuldbewußtseins gekommen sind, erfahren wir an un¬ 
serem Verhalten zu Angriffen. 

Ohne Schuldbewußtsein bleibt unsere Reaktion auf je¬ 
den Angriff der Gegenangriff. Wenn aber die innere Er¬ 
schütterung uns ergriffen hat, dann streift der äußere An¬ 
griff nur noch oberflächlich über uns hin. Er mag noch 
schmerzen und kränken, aber er dringt nicht ins Innere der 
Seele. 

Wo das Schuldbewußtsein angeeignet ist, da ertragen 
wir falsche und ungerechte Beschuldigungen mit Ruhe. 
Denn Stolz und Trotz sind eingeschmolzen. 

Wer wahrhaft Schuld fühlt, so daß sein Seinsbewußtsein 
in Verwandlung ist, auf den wirken Vorwürfe seitens an¬ 
derer Menschen wie ein Kinderspiel, das in seiner Harm¬ 
losigkeit nicht mehr trifft, wo das wirkliche Schuldbewußt¬ 
sein untilgbarer Stachel ist und das Selbstbewußtsein in 
eine neue Gestalt gezwungen hat. Hört man solche Vor- 


104 



würfe, so fühlt man vielmehr mit Sorge, wie unbetroffen 
und ahnungslos der andere ist. Ist eine Atmosphäre des 
Vertrauens da, so erinnert man an die Schuldmöglichkeit 
in jedem Menschen. Aber man kann darüber nicht mehr 
zornig werden. 

Ohne Durchheilung und Verwandlung unserer Seele würde 
sich die Empfindlichkeit in wehrloser Ohnmacht nur stei¬ 
gern. Das Gift psychologischer Umsetzungen würde uns 
innerlich verderben. Wir müssen bereit sein, uns Vorwürfe 
gefallen zu lassen, sie prüfen, nachdem wir sie gehört haben. 
Wir müssen die Angriffe auf uns eher suchen als meiden, 
weil sie für uns eine Kontrolle des eigenen Denkens sind. 
Unsere innere Haltung wird sich bewähren. 

Die Reinigung macht uns frei. Der Gang der Dinge liegt 
in keines Menschen Hand beschlossen, wenn der Mensch 
auch unberechenbar weit kommen kann in der Führung sei¬ 
nes Daseins. Weil die Ungewißheit bleibt und die Möglich¬ 
keit neuen und größeren Unheils, weil aus der Verwand¬ 
lung im Schuldbewußtsein keineswegs eine Belohnung mit 
neuem Glück des Daseins die natürliche Folge ist, darum 
können wir nur durch die Reinigung frei werden zur Be¬ 
reitschaft für das, was kommt. 

Die reine Seele kann wahrhaftig in der Spannung leben, 
angesichts des völligen Untergangs unermüdlich in der Welt 
tätig zu sein für das Mögliche. 

Wenn wir auf die Weltereignisse blicken, tun wir gut, an 
Jeremias zu denken. Als er nach der Zerstörung Jerusa¬ 
lems, nach dem Verlust von Staat und Land, nach seiner 
zwangsweisen Mitführung durch die letzten nach Ägypten 
auswandernden Juden dann noch erleben mußte, wie diese 
der Isis opferten in der Hoffnung, diese würde ihnen mehr 
helfen als Jahwe, da verzweifelte sein Jünger Baruch. Und 
Jeremias antwortete: »So spricht Jahwe: Fürwahr, was ich 
aufgebaut habe, reiße ich nieder, und was ich eingepflanzt 
habe, reiße ich aus, und da verlangst du für dich Großes? 
Verlange nicht!« Was heißt das? Daß Gott ist, ist genug. 
Wenn alles verschwindet, Gott ist, das ist der einzige feste 
Punkt. 

Aber was vor dem Tode, im Äußersten wahr ist, das wird 
zur schlimmen Verführung, wenn der Mensch in Müdigkeit, 
Ungeduld, Verzweiflung sich vorzeitig hineinstürzt. Denn 


105 



wahr ist jene Haltung an der Grenze nur, wenn sie getragen 
ist von der unbeirrbaren Besonnenheit, jederzeit das noch 
Mögliche zu ergreifen, so lange das Leben währt. Demut und 
Maßhalten ist unser Teil.